Ich bin dies nicht, weil ich all dies bin…

Über die Meditation Innere Stille und was so befreiend daran ist, sich ab und zu hinzusetzen und die Augen zu schließen.

Als Kind saß ich oft beim Bücherregal meines Vaters – aus irgendeinem Grund immer gerade dort – und „meditierte“. Ich nannte es damals nicht Meditation, denn diesen Begriff kannte ich noch gar nicht. Doch ich versuchte, diesen bestimmten Zustand immer wieder zu erreichen. Das gelang mir auch, bis ich mit den Jahren diese Erfahrung dann wieder vergaß.

Heute kann ich mich an sie als etwas Großes erinnern, etwas sehr Großes. „Eine Reise zu den großen Dingen“ hieß auch eine Ausstellung über die Kunst der Aborigines, die ich vor vielen Jahren besuchte. Genauso hatte ich es damals als Kind erlebt. Diesen Zustand erfuhr ich später wieder, als ich meditieren lernte.

Das ist inzwischen gut drei Jahrzehnte her. Besonders von der Meditation „Innere Stille“ wurde ich enorm inspiriert. Das Leben zeigte sich mir wie ein Fluss von Erlebnissen, die an mir vorbeizogen, und ich lächelte ihnen zu. Während der Nacht gewannen die Träume an Stärke.

War es bisher im Schlaf so gewesen, als hätte jemand einfach einen Schalter umgelegt, sodass alles nur noch schwarz war, so sah ich nun, dass das Bewusstsein auch während des Schlafes vorhanden blieb. Tag und Nacht waren in einem ständigen Fluss und gingen stufenlos ineinander über. Rückblickend betrachtet war Innere Stille der entscheidende Anstoß, mehr über mich selbst und mein Bewusstsein zu erfahren.

Wenig später führte mein Weg mich nach Schweden, zum Kurszentrum der Skandinavischen Yoga und Meditationsschule. Ich wollte damals mehr. Das konnte mein Lehrer Swami Janakananda sicherlich spüren und ich durfte bleiben. Die nächsten Jahre waren eine fantastische, intensive Zeit, mit einem sehr herausfordernden klassischen Training. Nichts für Leute, die nur mit einem Diplom winken wollen. Es war ein Entweder – Oder. Ich wählte das Entweder, und das habe ich nie bereut.

Nach Schweden war ich aber auch mit ein paar festen Vorstellungen im Koffer gegangen. Eine handelte davon, dass sich Yogis in eine ruhige Umgebung zurückziehen und dort meditieren. Diese Vorstellung stammt aus meiner Schulzeit in Jütland. Hier war Yoga damals so selten wie der Bernstein am Meer.

In der örtlichen Bücherei gab es nur ein einziges Buch über Yoga. Aus diesem entnahm ich, dass Yogis im Himalaya leben, ohne sich mit weltlichen Dingen zu beschäftigen, dass sie meditieren und dass es nichts gibt, was sie stört. Ach je, Bücher! In der Schulzeit lernten wir ja, wie bedeutungsvoll Bücher sind. Woher sollte ich es also besser wissen?

Meine Erwartungen stimmten nicht mit der Wirklichkeit überein. Erst nach und nach entdeckte ich, dass keine ruhige Umgebung nötig war, um Ruhe zu finden. Meine mitgebrachten Ideen wurden von einer erfrischenden und robusten Erfahrung ersetzt: Die Ruhe kam von innen.

Die Architektur unseres Wesens

Das Nervensystem können wir wissenschaftlich erklären. Den Geist aber, wie erklären wir ihn? Er scheint eine Art Niemandsland zu sein, unfassbar in seiner Natur. Die Funktionen des Gehirns betrachtet man z. B. als elektrische Aktivität oder als chemische und hormonelle Prozesse. Die Medizin hat jedoch auf viele Fragen nach dem Zusammenhang zwischen Geist, Nervensystem und Gehirn noch keine Antwort. Auch die Bewusstseinsforschung steckt erst in den Kinderschuhen.

 

ZitatWenn wir die Physik tatsächlich verstehen möchten, glaube ich, dass der beste Ort, um zu suchen, in uns selbst liegt. Denn hier werden wir die ‚Gesetze der Physik’ in ihrer anspruchsvollsten Form ausgedrückt finden.

Dr. James Oschmann

Die Antwort finden wir in der Art und Weise, wie wir unser Bewusstsein gebrauchen und entwickeln. Durch die Meditation Innere Stille finden wir Zugang zu unserem Bewusstsein.

Swami Satyananda fasst es so zusammen: „In unserem täglichen Leben ist unser Geist fast dauernd nach außen gerichtet. Wir sehen und hören nur das, was außerhalb von uns selbst geschieht, und haben wenig Gespür für die Ereignisse in unserem Inneren. ‚Innere Stille’ ist als Methode konzipiert, dies umzudrehen, sodass wir, wenigstens für kurze Zeit die Aktivität unseres Geistes sehen und verstehen können.“

Antar Mauna, Innere Stille – ein Pfeiler der tantrischen Tradition

Antar bedeutet auf Sanskrit innerlich, Mauna Schweigen oder Stille. Antar Mauna heißt also Inneres Schweigen oder Innere Stille. Diese Meditation stammt schon aus den frühen Hochkulturen unserer Zivilisation. Sie ist die Basis für jeden, der mit Meditation und Selbstverwirklichung arbeitet. Vigyan Bairava Tantra, eine mehrere tausend Jahre alte tantrische Schrift, spiegelt den Geist der Inneren Stille folgendermaßen wider: „Wenn ein Wunsch kommt, denk über ihn nach. Dann plötzlich: Lass ihn los.“

Die Wiederentdeckung der Meditation Innere Stille war Swami Satyanandas Verdienst. Er war derjenige, der sie aus der Tradition extrahierte und methodisch zugänglich machte. Im Tantra gibt es allerdings noch viel mehr Möglichkeiten, um das volle Potential des Menschen auszuschöpfen: von ganz einfachen bis hin zu sehr komplexen, aber trotzdem fundamental und tief wirkenden Methoden. Innere Stille kann man als einen wichtigen Pfeiler dieser Tradition bezeichnen.

In unserer eigenen Kultur gab es bis vor einigen Generationen noch den Brauch der ‚Dämmerstunde’ oder ‚Blauen Stunde’. Bei Sonnenuntergang saß die Familie gemeinsam im Wohnzimmer ohne miteinander zu sprechen und ohne Radio zu hören. Unsere eigene Kultur besaß also etwas, das in die gleiche Richtung führte. Spätestens dann, als das Fernsehen kam, war es aber mit der Dämmerstunde zu Ende.

Wurzeln in der Tiefenpsychologie

Wenn Yoga und Meditation etwas taugen sollen, müssen sie einen Bezug zu den lebendigen Prozessen haben, durch die wir alle hindurchgehen. Auch deswegen ist die tantrische Tradition nicht an festgelegte Regeln gebunden. Die Tradition ist zwar immer da, aber sie ist flexibel. Anstatt sich in moralischen Verboten zu verwickeln, ist die Frage eher: Was kann ich sinnvoll verwenden und was nicht? Was fördert meine Entwicklung und was hemmt sie? Es erfordert deshalb auch ein gewisses Mitdenken, ein Engagement im eigenen Interesse. Tantra fördert so das Unterscheidungsvermögen.

Es ist diese offene Architektur, die im ganzen Verlauf zum Ausdruck kommt. Die Meditation Innere Stille beruht auf Prinzipen der menschlichen Natur und der Tiefenpsychologie.

Die Meditation Innere Stille kannst du überall praktizieren und Ruhe finden. Pratyahara, Rückzug der Sinne

Innere Stille basiert auf einer nach außen und innen gerichteten Aufmerksamkeit. Diese wird durch die Meditation entwickelt und mündet in ein Erlebnis des eigenen Bewusstseins. Mit dem, was sowieso vorhanden und greifbar nah ist, zu beginnen, ist eine naheliegende pädagogische Vorgehensweise. Innere Stille beginnt deshalb damit, in alle Richtungen zu hören, auf alle Geräusche aus allen Richtungen, ohne eine Auswahl zu treffen. Ich höre einfach alles gleichzeitig. Wenn ich alle Geräusche zusammen erlebe, sind sie ein Teil der Ganzheit, in der ich mich befinde. Das Prinzip heißt Pratyahara oder ‚Rückzug der Sinne’. Ein praktisches Beispiel:

In den Jahren 1989-1998 hatten wir unsere Yoga- und Meditationsschule in Hannover-Linden. Der Stadtteil Linden ist in Hannover eine Art „Chinatown“, bunt und lebendig. Ursprünglich war Linden ein Arbeiterviertel, heute leben hier sehr viele verschiedene Menschen. Anscheinend gibt es Platz für alle.

Der Lindener Marktplatz, ganz in unserer Nähe, war eine Insel der Gemütlichkeit, insbesondere an den Markttagen. In Linden stehen viele ältere Häuser aus der Gründerzeit und es gibt kleine Läden, Kneipen, Grünflächen und – viel Musik, Konzerte, Kunst …

Donnerstags, bevor das Altpapier abgeholt wurde, ging vor unserer Haustür manchmal das auf der Straße gestapelte Papier in Flammen auf. Nein, nicht von selbst, sondern angezündet! Der Prospekteständer vor unserer Haustür wurde gelegentlich geleert und die Flyer, wie bei einer Ticker-Tape-Parade für heimgekehrte Helden, über die Fahrbahn verstreut. Mein Auto war mehrmals aufgebrochen. Als ich mir nicht mehr die Mühe gab, es abzuschließen, wurde es trotzdem wieder aufgebrochen. Das waren die Schattenseiten des bunten Stadtteils. So war Linden eben zu dieser Zeit. Man mochte es mögen oder nicht.

Unsere Straße war morgens und abends ein Nadelröhr für den Berufsverkehr, die Lautstärke immer beträchtlich. Intellektuell versuchte ich abzuschalten, blieb aber mit dem Lärm sehr beschäftigt.

In einem sehr heißen Sommer öffnete ich nachmittags immer die Fenster, um ein wenig Luftzug in den Raum zu bekommen, denn es war um diese Zeit drückend heiß. Ich setzte mich hin und meditierte. Ich hörte alles um mich herum. Die Innere-Stille-Meditation am Nachmittag wurde in diesen Hochsommertagen zu einer festen Gewohnheit für mich. Im Spätsommer telefonierte ich mit einem Bekannten aus Schweden. Er lobte die gemütliche Gegend in Linden. “Ja, hier gibt es auch Leben”, erwiderte ich.
– Leben? Ich musste nach dem Gespräch darüber nachdenken. Leben! Meine kritische Einstellung der lauten Umgebung gegenüber war offensichtlich nicht mehr da. Jetzt hatte ich es „Leben“ genannt. Die Umstände waren gleich geblieben, nur hatte ich eine andere Einstellung dazu bekommen.

ZitatO Geliebte, richte deine Aufmerksamkeit weder auf die Annehmlichkeit noch auf den Schmerz, sondern zwischen diese beiden.“
Vigyan Bairava Tantra

Pratyahara bedeutet, die Aufmerksamkeit auf das zu richten, was ich vielleicht gar nicht erleben möchte, in diesem Fall die Geräusche. Nichts ist richtig oder falsch, gut oder schlecht. Die Aufmerksamkeit richtet sich auf die bloße Wirklichkeit. Der Augenblick ruht in sich selbst.

Pratyahara ist ein Prozess, bei dem wir uns von außen nach innen bewegen. Nachdem du die äußeren Geräusche eine Weile gehört hast, fängt der Geist an, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen. Nun richtest du die Aufmerksamkeit auf sie.

Woran denkst du jetzt?

Jeder kann beispielsweise das sichtbare Bild, die räumliche Dimension einer Landschaft erfassen. Wie sieht es aber in uns selbst aus? Können wir die räumliche Dimension des Geistes verstehen? Mit ‚Bäumen’ und diversen anderen Elementen? Können wir den Wald vor lauter Bäumen sehen?

Wenn wir mit geschlossenen Augen still dasitzen, offenbart sich das, was an einem arbeitsreichen Tag unentdeckt geblieben ist. Das ist ganz natürlich. Wann gibt es sonst die Möglichkeit dazu? Der Geist beschäftigt sich gern mit verschiedenen Dingen. Man kann sagen, dass unsere ganze Zivilisation im menschlichen Denken begründet ist. Fantasie, Inspiration, sprudelnde Gedanken, Literatur … wo sollte das alles sonst herkommen?

Gedanken können sich aber stauen. Dann gibt es auf einmal keinen Raum mehr für die guten, neuen Ideen und Gedanken und keinen Raum mehr zum Träumen. Man versteht sich selbst nicht mehr so wie früher oder man kann nicht mehr so gut und locker mit bestimmten Sachen umgehen. Man dreht sich im Kreis und kommt immer wieder zurück an die gleiche Stelle. Wieder ist es die Aufmerksamkeit, auf der die Meditation basiert: Ich erlebe dies. Es ist so, als ob man die eigene Welt und sich selbst von außen sieht.
Ich bin dies nicht, ich bin all dies …

Es ist nicht die Frage, was du erlebst, sondern wie du dich dazu verhältst. Du lässt die Dinge kommen und gehen. Der Meditationsverlauf zeigt, wie das geschieht. Die Gedanken werden nicht als unerschütterliche, endgültige Wahrheiten betrachtet: Ich erlaube den Dingen, zu geschehen. Dann haben begrenzende Vorstellungen keinen Halt mehr.

Es gibt zwei Prinzipien: Ich bin dies nicht. Alles was ich erlebe, wird Teil der Wirklichkeit, in der ich mich jetzt befinde. Aber ich ‚hafte’ nicht daran, nichts bleibt hängen. Das andere Prinzip folgt dem ersten: Ich bin all dies. Ich werde eins mit der Vielfältigkeit des Lebens, meiner Umgebung, mit den Menschen, mit mir selbst.

Zitat…Dann ändert sich die Art des Erinnerns nach und nach: Der Suchende braucht sich nicht mehr willentlich zu unterbrechen, um mit dem wahren Rhythmus in Einklang zu kommen, er fühlt vielmehr tief in sich selbst, dass auf dem Grund seines Seins so etwas wie eine gedämpfte feine Schwingung lebendig ist; er muss sich nur ein wenig in sein Bewusstsein zurückziehen, um diese Schwingung der Stille jederzeit, in einer Sekunde, zurückzugewinnen. Er entdeckt, dass sie da ist, immer da ist, wie die tiefste Tiefe seines Seins, die ihn, wann immer er will, erfrischt und inmitten von Lärm und Problemen beruhigt. Er entdeckt, dass er einen unantastbaren Ort der Zuflucht und des Friedens in sich selbst mit sich trägt.

Satprem in Sri Aurobindu/The Adventure of Consciousness

Ende des Beitrages

Anleitung zur Meditation Innere Stille, Teil 1 und 2

Setze dich in eine bequeme und aufrechte Stellung hin.
Du kannst dabei auf einem Stuhl oder in einer Meditationsstellung am Boden sitzen.
Wenn die Stellung eingenommen ist, dann schließe die Augen.
Sitze einen Augenblick mit geschlossenen Augen, bevor du beginnst.
Lenke nun die Aufmerksamkeit nach außen, auf die Umgebung,
und höre alle Geräusche um dich herum.
Alle Geräusche aus allen Richtungen,
nicht nur ein bestimmtes Geräusch.
Höre alle Geräusche gleichzeitig:
die Geräusche aus der Ferne
und die Geräusche aus der nächsten Nähe.
Du musst sie nicht benennen oder bewerten.
Höre einfach die Geräusche an sich.
Bleib dabei …
… eine Weile
Mach dir ab und zu bewusst,
was du tust.
Wenn du davon wegkommen solltest,
bring deine Aufmerksamkeit zurück zu den Geräuschen.
Wenn du nicht auf die Geräusche hörst, was erlebst du dann?
Was hat deine Aufmerksamkeit in Anspruch genommen?
Erlebe es …
Danach kannst du die Aufmerksamkeit wieder auf die Umgebung lenken.
Zum Hören kannst du immer wieder zurückkommen.
Und jetzt: Was erlebst du jetzt?
Falls du über etwas nachdenkst,
dann werde darauf aufmerksam.
Gedanken kommen und gehen.
Es ist ein natürlicher Prozess.
Erlebe die Gedanken, wie Kinder, die Fische in einem Aquarium beobachten.
Die Grundlage bei dieser
Meditation ist das Erleben.
Du brauchst keine Stellung zu dem zu nehmen, was passiert.
Ich erlebe dies …
Und nun, gegen Ende dieser Meditation:
Erlebe deine Anwesenheit hier,
erlebe diesen Augenblick jetzt:
in diesem Augenblick,
an diesem Ort präsent zu sein.
Öffne die Augen wieder und schau dich um.
Dann bewege den Körper.

OM TAT SAT

Wichtiger Hinweis: Die Redaktion und der Autor übernehmen keine Verantwortung für die Umsetzung, Verwendung Resultate der in der Zeitschrift Yoga im Zentrum beschriebenen Übungen und Techniken, sie sind ausschließlich als Inspiration gedacht und können keinen persönlichen Unterricht ersetzten. Wir empfehlen jeden Interessierten, einen qualifizierten Yoga- und Meditationslehrer aufzusuchen.

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