Die Reise ins Innere

In der Sprache der Inuit gibt es viele Arten von Schnee: Schneeregen, Matsch und Pappschnee sind etwas ganz anderes als Schnee bei tiefem Frost. Wenn es nur ein wenig friert gleichen die aus Schneekristallen bestehenden Schneeflocken Wattebäuschen. Bei starker Kälte fallen sie wie kleine, dichte Kugeln.

Wie der Eskimo das Äußere, so unterzieht der Yogi das Innere einer nuancierten Erforschung und Bestandsaufnahme. Was geschieht, wenn man die Augen schließt und die Sinne von der äußeren Umgebung zurückzieht? Ist der Geist zerstreut und voll von verschiedenen Aktivitäten, oder kann man ihn auf eine Sache sammeln? Kann die Konzentration zu einem starken Werkzeug aufgebaut werden? Ist es möglich, immer feinere Zustände zu erleben, sich vom Äußeren ins Innere zu bewegen?

Die Methoden des Yoga, um die Reise von der äußeren zur inneren Wirklichkeit zu unternehmen, bestehen vor allem aus einer Stärkung der Aufmerksamkeit.

  • Yogastellungen fördern die Gesundheit und machen den Körper feinfühlig.
  • Atemübungen machen uns darauf aufmerksam, dass Energie nicht nur von Außen zugeführt werden kann, sondern unsere weitgehend bereits vorhandenen Ressourcen freigesetzt und verteilt werden, wie wir es uns wünschen.
  • Entspannungsübungen machen uns mit dem Zustand zwischen Schlaf und Wachsein bekannt. Wir werden uns bewusst, dass es möglich ist, zugleich entspannt und sehr wach zu sein.
  • Die Meditation zeigt uns zunächst, dass wir einen Geist mit Gedanken, Gefühlen, Stimmungen und Zuständen haben, die sowohl rational als auch irrational sein können, ein Geist, der mit Sorgfalt zu einem sehr wertvollen Instrument werden kann.

Das Senoi-Volk aus dem vom Regenwald bedeckten Hochland Malaysias besitzt offenbar einen guten Kontakt zu den Kräften des Geistes. „Sie treffen sich morgens und besprechen die Träume der Nacht mit ungefähr folgender Einstellung: Nichts ist unabwendbar negativ. Unangenehme Erscheinungen wie Stürze, Schlägereien und Tod zeigen lediglich, dass man Kontakt zu den natürlichen Ressourcen hat. Es geht lediglich darum, offen zu sein und die Projekte durchzuführen, die in der Traumwelt erscheinen. Wenn du in einem Traum glaubst, dass du stirbst, bist du in der Wirklichkeit auf dem Weg, deine eigene Stärke zu empfangen, die sich gegen dich gewendet hat, aber jetzt zu deiner Verfügung steht, wenn du sie akzeptieren kannst“. (Stig Toft-Madsen in Bindu)
Ein Senoi-Junge träumt in einer Nacht, dass er von seinem guten Freund angriffen wird. Der Rat der Alten, der sich um die Träume kümmert, die über familiäre Beziehungen hinaus gehen, schlägt dem guten Freund vor, dem Jungen ein Geschenk zu geben und künftig nett zu ihm zu sein, denn der Träumer ist sicherlich von seinem Freund gestört worden, ohne das dies dem Freund bewusst war.Ihre Fähigkeit, interaktiv mit dem Unterbewusstsein zusammen zu arbeiten und einem Problem vorgreifen zu können, noch bevor es sich im täglichen Leben herauskristallisiert, hat es dem Senoi-Volk ermöglicht, sich an wechselnde Lebenssituationen und politische Umwälzungen anzupassen, ohne seine Integrität zu verlieren. In diesem Volk gibt es so lange sie sich erinnern können, keine Konflikte, keinen Fall von Gewalt und kein Vorkommen von chronischen Krankheiten, so Kilton Stewart, einer der ersten Anthropologen, der das Senoi-Volk besucht hat.

Auch andere Naturvölker haben einen guten Kontakt zum Inneren. Bei dem Fayu-Volk, einer Jäger-Sammler-Kultur auf der Insel West Papua in Indonesien, wird es nicht sehr ernst genommen, wenn man sich physisch verletzt – es ist ja nur der Körper! Hat jemand dagegen Seelensorgen, wird der ganze Stamm alles tun, um dem betroffenen zu helfen. Auch dieses Volk scheint im Gleichgewicht zu sein. Sie kennen keine Depression oder psychischen Leiden, berichtet eine Augenzeugin, Sabine Kuegler, die einen großen Teil ihrer Kindheit bei den Fayus lebte.       („Dschungelkind“ 2006)

Bedeutet dies, dass wir zu einer ursprünglichen Lebensweise zurückkehren müssen, um Harmonie zu erleben und um unser Potential als Menschen entwickeln zu können?

 

ZitatEin Yogi zeichnet sich dadurch aus, dass er sich jeder Situation anpassen kann.“
Swami Janakananda

 

Interessant an der Yogatradition ist, dass sie weder einer bestimmten Bevölkerungsgruppe, noch einem bestimmten Lebensstil oder einem speziellen geographischen Gebiet angehört, sondern als Jahrtausende altes menschliches Erbe angesehen werden kann. Unabhängig vom kulturellen Hintergrund ist Yoga für jeden zugänglich, der daran Interesse hat. Es enthält eine grosse Anzahl von Techniken und Methoden, um die Reise zu unternehmen vom Äußeren in den Kern unserer Existenz und wieder zurück in die physische Realität, in der wir leben. Auf dieser Reise können wir durch die Stärkung der Aufmerksamkeit Begrenzungen im Körper und Geist lösen und in Kontakt mit unserer eigentlichen Identität gelangen. Dies ermöglicht ein neues und kreatives Verhältnis zu unseren Gefühlen und zu unserem Körper, sowie zu unseren tieferen Wünschen und Ängsten. Gleichzeitig wächst die Fähigkeit, mit diesen Erfahrungen umzugehen und sie im Alltag anzuwenden.

Wenn wir Yoga in seiner ganzen Tiefe anwenden – auf eine Weise, die viel weiter reicht als eine bloße Faszination für die physischen Übungen – macht es uns robust und ausgeglichen im inneren wie im äußeren Leben, da es eine Verbindung zwischen diesen beiden Seiten des Lebens knüpft und sie vereint.

Und was ist das Ergebnis? Wo endet die Reise? Sie endet nicht, sie hat eben erst begonnen. Die nächste große Entdeckung liegt darin, aktiv zu sein, etwas für sich selbst und andere zu tun, und das Leben als schöpferischen Prozess zu sehen. Dies wird Karma Yoga genannt. Artikelende