Über Saraswati
geschrieben von Swami Janakananda Saraswati anlässlich des Jubiläums der Schule in Harbergen und Hannover
Der dänische Märchenautor und Dichter Hans Christian Andersen sagte einmal: „Ich weiß nicht, ob die Anwesenheit von Schwänen Glück bedeutet – aber die Abwesenheit von Schwänen bedeutet Unglück.”
Im übertragenen Sinne bedeutet dies, wie in seiner Erzählung Das hässliche Entlein, dass ein Mangel an schöpferischen Menschen nicht gut für eine Gesellschaft ist. Eine Gesellschaft, in der man es nicht versteht, den schöpferischen Prozess zu fördern – kann Unglück bringen. Und damit meine ich nicht Kritiker oder Wächter, sondern genau jene kreativen Menschen, die gute Ideen haben, sich gegenseitig inspirieren und die sich darauf verstehen, eine Gesellschaft und ihre Individuen zu spiegeln und somit bewusst zu machen.
Von den alten Griechen sind uns die Musen überliefert. Sie helfen uns die Inspiration zu wecken und lebendig zu halten. Zum ersten Mal hörte ich von den Musen als Kind zu meiner Schulzeit, als wir dänische und europäische Kultur behandelten. Künstler bezogen sich auf sie in Werken, mit denen wir arbeiteten und in der klassischen Altertumskunde lehrte man uns: „Die Musen wussten alles (war doch die Göttin der Erinnerung deren Mutter), sie vermochten es die Dichter zu inspirieren und ihnen die rechten Worte in den Mund zu legen. Daher wurden sie zu den Beschützerinnen der Literatur und nach und nach aller schönen Künste” (Leo Hjortsø).
Die Musen sind ursprünglich Quellnymphen. Die, die vom Quellwasser tranken, wurden inspiriert. Später teilten die griechischen Musen die Kunstarten unter sich auf und bekamen je ihre: Geschichtsschreibung; Tragödie; Komödie; Tanz; die erotische Lyrik; Epos; Flötenspiel; die Hymnen zur Ehre der Götter und Astronomie – sie alle hatten ihre eigene Muse.
In der indischen Kultur zeigt sich uns eine ähnliche Kraft oder Shakti, sie ist personifiziert in einer Gestalt, der Göttin Saraswati. Sie manifestiert sich als Unterstützerin und Energie in allem Wissen und allen Lehren (der Wissenschaft, der Dichtkunst, Malerei und Musik, um nur einige ihrer Attribute zu nennen); auch der Weisheit und Kreativität, der es bedarf um Yoga und Meditation zu vermitteln, liegt sie zugrunde. So kommt es wohl, dass einer der vier Zweige der Swamitradition ihren Namen trägt: Saraswati.
2005 befand ich mich in Kerala in Indien. Zu diesem Zeitpunkt wurde Saraswati mit Puja, Musik und Prozessionen gefeiert. An unserem Platz im Fluss, wo wir mit unserem Boot über Nacht in den Back Waters vor Anker lagen, klang die ganze Nacht Musik von einem Tempel am gegenüberliegenden Ufer herüber. Bereits tags zuvor standen, egal wo wir anlegten, Schulkinder am Kai parat um unsere Geschenke in Form von Stiften und Heften für das beginnende Schuljahr entgegen zu nehmen. So feierten wir Saraswati. Natürlich! Denn sie ist auch die Beschützerin der Schulen und der Bildung. Kerala war im Übrigen der erste Staat Indiens, dem es gelang den Analphabetismus zu besiegen.
Auch bei Saraswati findet sich ein Schwan. Auf vielen Darstellungen ist er ihr Begleittier. Der Schwan führt uns zum Yoga. Auf Sanskrit heißt er Hamsa und repräsentiert einen der wichtigsten Begriffe im Yoga, nämlich Viveka: Das Wirkliche vom Unwirklichen zu unterscheiden, das ist die Fähigkeit des Schwans. In der Mythologie heißt es, dies sei genauso schwer wie Milch von Wasser zu unterscheiden, in einer Mischung aus beiden. In der Meditation erleben wir die individuelle Seele oder das Selbst als die innerste Wirklichkeit.
Swami Sivananda Saraswati war ursprünglich Arzt und arbeitete viele Jahre in diesem Beruf, sowohl in der Forschung als auch in der Praxis mit einem Urwaldhospital in Burma. Als er nach Indien heimkehrte, um sich in Rishikesh niederzulassen und sich in den Swamiorden Saraswati einweihen zu lassen, geschah dies nicht um passiv zu werden und sich vom Leben zurückzuziehen, im Gegenteil. Anfangs, nach seiner Rückkehr nach Indien, war er immer noch als praktizierender Arzt für Bedürftige aktiv. So half er insbesondere den Leprakranken, welche in einer Kolonie außerhalb Rishikeshs lebten. Außerdem begann er, Wissen über Yoga unter den Yogis seiner Generation zu untersuchen. Er lernte viele der Yogis kennen, die sich zu dieser Zeit in Rishikesh und Haridwar aufhielten und eignete sich deren Kenntnisse an. Auch kam er später an anderen Orten Indiens mit vielen von ihnen zusammen. Dadurch konnte er einen Großteil des Inhaltes der lebendigen Yogatradition an Übungen und Praktiken zusammentragen, aufzeichnen und in seiner Tätigkeit als Autor und Lehrer weitergeben.
Swami Sivananda hat viele Menschen inspiriert, diese von ihm begonnene Arbeit fortzusetzen und die Möglichkeiten, die die Yogatradition beinhaltet, zu verdeutlichen; nicht nur für Heilung und gesundheitsfördernde Therapie, sondern auch als einen Weg der geistlichen Evolution des Menschen. Swami Satyananda Saraswati, ein Schüler der ihm nahe stand, wurde inspiriert sich in die Meditationen aus der Tantra-Tradition zu vertiefen und diese zugänglich zu machen. Nach zwölf Jahren im Ashram bei Swami Sivananda reiste Swami Satyananda für acht Jahre in Indien als wandernder Swami umher. Er erzählte mir, wie er während dieser Zeit u.a. tantrische Kraftzentren und Versammlungsorte aufsuchte. Anschließend ließ er sich in Monghyr in Bihar nieder, wo er nach einer Periode intensiven Sadhanas zu unterrichten begann.
Um Swami Sivananda in Rishikesh entstand im Laufe der Zeit eine ganze Kleinstadt oder „Nagar“ – Sivanandanagar, mit einem gut funktionierendem Ashram, Sivananda Ashram, sowie eine Augenklinik, eine ayurvedische Medizinproduktion, Unterrichtsräume und eine Druckerei für Bücher und Zeitschriften über Yoga und Meditation. Swami Satyananda war eine Zeit lang verantwortlich für die Druckerei. Eines Tages gab es etwas Wichtiges, dass er unbedingt mit Swami Sivananda besprechen musste. Er stürzte zu ihm in sein Kutir. Dort saß Swami Sivananda vertieft in seine Mantrameditation. Eilig zog sich Swami Satyananda zurück. Als Swami Sivananda heraustrat, fragte ihn Swami Satyananda: „Du bist doch erleuchtet, brauchst du denn wirklich diese einfache Meditation?”
Swami Sivananda antwortete ihm: „Es ist besser auf der sicheren Seite zu sein.”
Wie wir sehen passt der Name Saraswati wirklich zu Swami Sivananda und seinem Chela Swami Satyananda – wenn wir alles betrachten, was wir von ihnen geerbt haben.
Als ich anfing, über den Namen Saraswati nachzudenken und darüber, wie er in mein Leben passt – und über die Menschen, die mich umgeben und die ich durch meine Tätigkeit kenne, wurde mir klar, dass es kein Zufall war, dass ich genau Swami Satyananda begegnet war und mich in den Saraswatiorden hatte einweihen lassen. Viele der schöpferischen Menschen, die Teil meines Lebens wurden, haben wesentlich mit der Kreativität zu tun, die ich benutze um tantrischen Yoga und Meditation zu vermitteln. Dies betrifft Künstler, Musiker, Forscher, Filmemacher und Gelehrte. So beinhaltet doch die Tantratradition an sich u.a. Kunst, Wissenschaft, Weisheit, Dichtkunst, Malerei und die angewandte Wissenschaft von Yoga und Meditation. Ich wurde gelinde gesagt überrascht, wie gut die Qualitäten dieser Muse oder Göttin ins Gesamtbild passen.
Und denken wir heute an Hamsananda, der sich vor 30 Jahren zusammen mit Yoga Shakti in Hannover niederließ und deren Interesse für Kunst, Architektur und Forschung an Yoga, neben Layout und Ästhetik, in Verbindung mit ihrem Yoga- und Meditationsunterricht, sowie im Großen und Ganzen, dann merken wir auch hier die Anwesenheit von Saraswati.
Was ist das Bestreben oder das Ziel der Musen? Und Saraswatis? Den Künstler, Lehrer, Swami zu ermutigen, den Geist des Zuschauers, Lesers, Schülers und Zuhörers durch Kunst, Musik, Theater, Tanz und Meditation zu beeinflussen, sodass er sich öffnet und sich von Gewohnheitsgedanken und Vorurteilen befreit; damit der Mensch erkennt, dass er lebt, um das Bewusstsein zu erweitern und zu einer Einsicht zu gelangen, einer Fähigkeit zu erleben, durch die er präsent wird und etwas bewirken kann. Durch diese Mittel lässt sich ein veränderter Zustand in Körper und Geist hervorrufen – ein offener Zustand.
Die Muse des Theaters und der Komödie im antiken Griechenland hieß Thalia. Über der Öffnung der Bühne im königlichen Theater in Kopenhagen steht geschrieben: „Ej blot til Lyst” – „Nicht nur zum Vergnügen”. Ich interpretiere das so: Nicht nur für selbstvergessene Unterhaltung, sondern für etwas von größerem Wert, etwas das dich zumindest zum Nachdenken bringt, sodass du nicht alles im Voraus weißt, und etwas, das dich anregen kann und dich das Leben in einer neuen und größeren Perspektive sehen lässt.
Von vielen Musikern wird heutzutage eine Darbietung erwartet, die die Menschen unterhält und mitreißt, sodass diese lautstark applaudieren. Man klatscht. Der Musik folgt keine Stille, die ihr Raum gibt auszuklingen; keine Ruhe, die es ermöglicht, dass sich ihre transformierende Wirkung entfalten kann – noch nicht mal bei einem Kirchenkonzert gibt es Stille nach der Musik! Das Gleiche gilt im Übrigen für Meditation, bei vielen gemeinsamen Meditationen kommt man direkt danach wieder raus, fängt an sich zu bewegen, sich zu jucken, die Augen zu reiben oder zu sprechen. Ich schlage vor, dass man unmittelbar nach der Meditation ein wenig sitzen bleibt und die Umgebung als eine Ganzheit erlebt, und damit einen wichtigen Teil der Wirkung der Meditation beibehält.
„One good thing about music, when it hits you, you feel no pain.” (Bob Marley).
Es gibt eine Musik die transformiert, welche das ist, musst du selbst herausfinden. Ab einem gewissen Punkt in ihrem Verlauf, bringt sie dich dazu, das Verstehen oder Wertschätzen loszulassen und dich hinzugeben – so wie du bei einer Meditation die Anstrengung loslässt und geschehen lässt, was von selbst geschieht – so wie du die Erwartung loslässt, dass etwas Besonderes geschehen soll. Das ist es, was ich Transformation nennen werde – oder, wie Maharishi Mahesh Yogi es nannte, zu transzendieren – dass ein Zustand sich ändert, von einem zu einem anderen, physisch, geistig und psychisch. So dass du der Ruhe, der Fähigkeit, in dir selbst zu ruhen, näher kommst.
Wenn es dem Musiker nur darum geht sich zu zeigen und Beifall zu bekommen, oder wenn man in der Meditation nach Erlebnissen und Leistungen sucht und die Hingabe vermeidet, hat man Saraswati nicht hereingelassen und ihre Inspiration nicht empfangen.
Wenn du dies hingegen in der Musik erfahren hast, dann kannst du es auch in der Meditation finden – und wenn du es von der Meditation kennst, findest du es auch in der Musik.
“Das Flötenspiel des Unendlichen
erklingt immerfort, und sein Klang
ist Liebe:
Wenn Liebe allen Grenzen entsagt,
erreicht sie Wahrheit.
Wie weit dieser Duft sich breitet!
Kein Ende hat er, nichts steht
ihm im Wege.
Die Form dieser Melodie ist hell
gleich einer Million Sonnen: unvergleichlich
klingt die Vina, die Vina von den
Klängen des Wahren.”
(Kabir)
Links:
- Roop Verma, erzählt von den zwei Arten von Musik, die ihm seine indischen Wurzeln mitgegeben haben – Das Gedicht von Kabir (übersetzt ins Englische von Rabindranath Tagore), zitiere ich zum Gedenken des Musikers Roop Verma, den ich fast 40 Jahre lang gekannt habe.
- Tantra – der Yogi, der Künstler und der Pandit – Ein Artikel von Swami Janakananda erschienen in Yoga Aktuell No. 107 Dezember 2017/Januar 2018, Ausgabe 6.
- Ein Gespräch zwischen Prof. Thomas Schmidt und Prof. Larry Scherwitz
Text:
Swami Janakananda Saraswati
Übersetzung:
Jan Chmilewski
Lektorat:
Sebastian Quedenbaum