Klassische indische Musik
IM EINKLANG MIT DEM KOSMOS
von Yogendra
Die klassische indische Musik hat uralte Wurzeln in der Rezitation heiliger Texte. Sie hat sich jahrhundertelang lebendig weiterentwickelt und eine Fülle verschiedener Stile und Instrumente hervorgebracht. Seit den 1960er Jahren ist sie auch außerhalb Indiens bekannt geworden. Heute ist sie weltweit anerkannt und eine wichtige Inspirationsquelle für unterschiedlichste andere Musikrichtungen von Jazz bis Bollywood.
Nada Brahma – „Gott ist Schwingung“ oder „die Welt ist Klang“ ist eine zentrale Vorstellung altindischer Philosophie. Die Ansicht, dass das Gewebe des Kosmos ein interaktiver Tanz feinster Schwingungen sei, findet sich bereits im Natya Shastra, einem Grundlagenwerk der indischen Kunsttheorie, das wahrscheinlich zwischen 200 v. Chr. und 200 n.Chr. entstanden ist – und sie wird von der modernen Physik heute eindrucksvoll bestätigt.
Die feinsten Schwingungen, Anahata Nada („unangeschlagene Schwingung“), sind nach indischer Lehre nur innerlich nach langjähriger Übung in tiefer Meditation erfahrbar. Leichteren Zugang zur Schwingungsebene bieten die hörbaren Klänge, Ahata Nada („angeschlagene Schwingung“). Auch Musik ist Nada, Schwingung, und so kann der Mensch im Musik-Erleben – ob als Musiker oder als Zuhörer – besonders leicht und unmittelbar seines Eingebundenseins in das Gewebe des Kosmos gewahr werden.
Im Natya Shastra wird dargelegt, dass sich alle menschlichen Gefühle auf acht essenzielle emotionale Qualitäten zurückführen lassen: Liebe, Heiterkeit, Mitleid, Schrecken, Mut, Furcht, Ekel und Erstaunen. Im Alltag durchleben wir diese Gefühle in den verschiedensten Mischungen. Wenn aber beim Musizieren eine essentielle Emotion zum Ausdruck kommt, wird es möglich, sie ohne persönliche Betroffenheit in Reinform zu erleben. Durch dieses Erleben, genannt Rasa (wörtlich „Saft“ oder „Essenz“), kann sich die Identifizierung mit der begrenzten individuellen Persönlichkeit lösen und einen Zugang zu transpersonaler Glückseligkeit öffnen. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um ein „angenehmes“ (z.B. Heiterkeit) oder ein „unangenehmes“ (z.B. Ekel) Rasa handelt – wenn das Erleben bis zur Essenz geht, dann wird jedes Rasa zur transformierenden Kraft, die das kleine Alltags-Ich auflöst und mit dem großen Ganzen verschmilzt.
Die Magie des Raga
Der Schlüssel zum mystischen Einheitserleben in der indischen Musik heißt Raga. Einer bekannten Definition gemäß ist Raga „das, was die Seele färbt“. In den klassischen Musiktraditionen Nord- und Südindiens gibt es hunderte von Ragas, von denen einige Dutzend allgemein bekannt sind, manche aber auch nur in mündlicher Schüler-Lehrer-Tradition überliefert werden. Jeder Raga hat eine ganz eigene, für Eingeweihte unverwechselbare melodische Gestalt. Diese Melodiegestalt entsteht durch ein ausgefeiltes Regelwerk, das für jeden Raga genau festlegt, welche Töne aufwärts gespielt werden dürfen und welche abwärts, wo Melodiebögen beginnen oder enden, wie Verzierungen zu verwenden sind, welche Töne stark oder schwach oder völlig verboten sind, etc. etc. Wenn all diese Regeln befolgt werden und wenn es beim Spielen gelingt, sich tief auf die ganz individuelle Ausdrucksqualität des gewählten Ragas einzustimmen, wenn zudem Ort und Zeit richtig gewählt sind, dann wird eine Raga-Performance zur mystischen Erfahrung. Unter besonderen Umständen soll ein Raga sogar auf magische Weise die Naturkräfte beeinflussen können: Die Musiker-Familie Mallik berichtet, dass ihre Vorfahren in Darbhanga 1788 eine gefährliche Dürreperiode beendet und so eine Hungersnot abgewendet haben, indem sie einen Monsun-Raga sangen und damit Regen herbeibeschworen.
Das „Färben der Seele“ mit Rasa braucht Zeit – eine Stunde für das Spiel eines einzigen Ragas ist keine Seltenheit. Zunächst legt das Saiteninstrument Tanpura im Raum einen schillernden Klangteppich aus, auf den Musiker wie Zuhörer sich einschwingen und dessen ununterbrochen gespielter Grundton als Fundament für den Aufbau der Raga-Gestalt dient. Darauf werden die ersten Melodietöne angespielt oder gesungen, langsam und meditativ zunächst, Stück für Stück gelassen die Gestalt des Raga enthüllend, im Laufe der Zeit immer komplexer und ausgreifender, immer neue Details offenbarend, sich verdichtend zu einem melodischen Pulsieren, das kaum merklich schneller und dichter wird und irgendwann die Rhythmusbegleitung mit einlädt, anfangs in ruhig schreitendem Tempo, in weiten kreisenden Bögen, aber allmählich lebhafter und expressiver, spontane Dialoge von Melodie und Rhythmus spinnend, schneller und immer schneller werdend, immer virtuoser und dynamischer, bis schließlich in einem brillanten Feuerwerk ein wirbelnder ekstatischer Schlusshöhepunkt erreicht wird.
Melodie & Rhythmus, eine lebendige Struktur
Raga und Tala, Melodie und Rhythmus, sind die Seele und das Herz der klassischen indischen Musiktradition. Das Sanskrit-Wort Raga leitet sich vom Verb „ranj“ ab, das „färben“ bedeutet. Ragas sind melodische Strukturen für Improvisation und Komposition, die bildlich gesprochen das Gemüt färben, also eine bestimmte seelische Wirkung auf die Zuhörer haben sollen. Tala bedeutet wörtlich „Klatschen“ und bezeichnet die rhythmische Ebene, den lebendigen Pulsschlag, in dem sich die Musik entfaltet.
Jeder der mehreren hundert bekannten Ragas hat eine ganz eigene individuelle Klang-Gestalt, die ihn von allen anderen Ragas unterscheidet. Sie wird definiert durch eine aufsteigende und eine absteigende Tonbewegung mit je fünf bis sieben Tönen. Oft verwenden die auf- und absteigende Bewegung die gleichen Töne, aber manchmal kommen auch ganz verschiedene Töne vor. Manchmal kommen die Töne geradlinig nacheinander wie bei einer Tonleiter, aber manchmal machen sie auch Zickzackbewegungen. Manche Töne werden quasi nackt verwendet, während andere mit raffinierten Ornamenten umspielt werden. Manche Töne laden zum Verweilen ein, andere werden nur kurz gestreift. Manche verbinden sich mit anderen zu charakteristischen Sequenzen, während andere immer wieder neu kombiniert werden. Und alle Töne beziehen sich auf einen ununterbrochen durchklingenden Grundton, der meist von einem Instrument namens Tanpura als schillernder Klangteppich im Hintergrund gespielt wird.
Aus all dem ergibt sich für jeden Raga eine einzigartige Struktur. Sie lässt sich bildlich vergleichen mit den Vokabeln und der Grammatik einer Sprache, den Schrittfolgen eines Tanzes oder der Erbinformation eines Lebewesens. Damit diese Struktur sich entfalten kann, muss die Sprache gesprochen werden, der Tanz getanzt, und das Lebewesen muss wachsen und sich entwickeln. Erst in dieser Entfaltung wird der Raga lebendig und nimmt eine konkrete Erscheinungsform an. Das kann eine feste Form in einer bestimmten Komposition sein – ähnlich wie ein aufgeschriebenes Gedicht, in dem sich die Regeln und die Schönheit einer Sprache manifestieren.
Meistens geschieht die Raga-Entfaltung aber spontan improvisierend aus dem Moment heraus – so wie wir beim Sprechen meist auch keine auswendig gelernten Texte aufsagen, sondern uns spontan passend zur Situation ausdrücken.
Der innere Erlebnisraum
Jeder Raga hat aber nicht nur eine bestimmte formale Struktur, sondern eine seelische Schwingung, eine Stimmung, Farbe, Energie oder wie immer man es ausdrücken mag. Viele Ragas sind deshalb assoziiert mit ihnen entsprechenden Tages- oder Jahreszeiten oder Gottheiten. Jahrhundertelang hat man auch versucht, den besonderen Charakter eines Ragas in Form von Gemälden und Gedichten darzustellen. All diese Assoziationen und Übersetzungsversuche können bei der Annäherung an einen Raga hilfreich sein, um Türen zu inneren Erlebnisräumen zu öffnen. Die Magie eines Ragas lässt sich damit aber nicht wirklich erfassen. Ganz ohne Worte, nur mit abstrakten Tönen, vermag er durch die jahrzehntelang kultivierte Kunst großer Musiker unser Innerstes zu berühren, einen frischen Quell subtiler Freude immer wieder neu zum Fließen zu bringen und uns an einen Ort tiefen Friedens zu führen.
Tala, bezaubernde rhythmische Zyklen
Eine tragende Rolle bei der Entfaltung des Ragas spielt der Tala, die rhythmische Struktur. Talas sind nicht geradlinig wie die Takte in der westlichen Musik, sondern kreisförmig – Anfang und Ende fallen zusammen, so dass die Bewegung im Prinzip ewig weitergeht. Wir kennen das von der Uhr, wo wir bei Vollendung der zwölften Stunde nachts entweder von 00:00 Uhr, dem Anfang des neuen Tages, oder von 24:00 Uhr, dem Ende des vorigen Tages sprechen können. Aber egal wie wir es betrachten – die Zeit läuft gleichmäßig und ungerührt immer weiter. Und ebenso bewegt sich auch der Tala in gleichmäßigen Pulsen immer weiter und schafft so einen dynamischen Rahmen für die Musik. Besondere Bedeutung hat dabei die Eins, der erste Schlag, an dem Anfang und Ende ineinander fallen. Um diese Eins dreht sich die Musik, umkreist sie, entfernt sich mitunter scheinbar von ihr, bis dann wie durch Zauberei die Musiker immer wieder genau an diesem Punkt zusammenkommen.
Dieses intuitive, magisch anmutende Zusammenspiel ist nur möglich, weil jeder Tala eine genau festgelegte Ordnung hat. Die Gesamtzahl der gleichmäßigen Pulse im Tala liegt meist zwischen sechs und sechzehn, gegliedert in Untergruppen aus 2ern, 3ern oder 4ern. In dieser Struktur wird jedem Pulsschlag auch ein bestimmter Klang zugeordnet, der in Konzerten auf einer Trommel gespielt wird. Dadurch erhält der Tala neben seiner mathematischen Klarheit eine betörende sinnliche Qualität und charakteristische Bewegung. Und genau diese Bewegung tickt beim Spielen exakt in den Köpfen der Musiker und der Kenner im Publikum und schafft so eine manchmal geradezu berauschende innere Verbindung.
Die Instrumente
Die Instrumente der klassischen indischen Musik haben eine ganz eigene unverwechselbare Klang-Magie. Besonders typisch sind ihr schillernder Obertonreichtum, der durch Brücken mit raffiniert geschliffener Wölbung und viele Resonanzsaiten entsteht, und die Fähigkeit, viele Facetten der menschlichen Stimme zu imitieren. Obwohl man indische Klassik auch auf Instrumenten wie Geige oder Saxofon spielen kann, kommen ihre Besonderheiten auf den in Indien selbst entstandenen Instrumenten besonders zur Geltung.
Tradition & Erneuerung
Die Feinheiten der klassischen indischen Musik lassen sich in Notenschrift kaum darstellen. Deswegen wird die in Indien entwickelte Buchstabennotation nicht als möglichst genaue Spielanweisung benutzt (wie in der westlichen Klassik), sondern nur als Gedächtnisstütze. Aber wie lernt man dann diese Musik und wie wird sie überliefert?
Der Schlüssel dazu ist die mündliche Überlieferung in der Guru Shishya Parampara. Guru bedeutet Lehrer, Shishya heißt Schüler und Parampara bezeichnet die Weitergabe von Wissen von einer Generation zur nächsten. Nicht nur Musik wird so tradiert, sondern z. B. auch spirituelles, medizinisches oder handwerkliches Wissen. Da in allem Wissen letztlich ein göttlicher Ursprung gesehen wird, ist seine Übermittlung ein heiliger Akt. Dafür ist sogar eine eigene Göttin namens Saraswati zuständig – nicht nur die Göttin der Weisheit und des Lernens, sondern auch der Sprache und der Musik! Der Guru ist der Hort dieses Wissens und der Schüler nimmt es idealerweise gläubig und gehorsam, mit Ehrfurcht und Inbrunst, Geduld und Vertrauen in sich auf, bewahrt es und gibt es eines Tages, wenn er selbst Guru geworden ist, unverfälscht weiter.
Traditionelle Ausbildung – Weg zur Meisterschaft
Aus dem Familien- oder Bekanntenkreis wählt der Musik-Guru von Zeit zu Zeit besonders talentierte Jungen aus und nimmt sie in seinen Haushalt auf. Er versorgt sie wie eigene Kinder und übernimmt die volle Verantwortung für ihre musikalische und persönliche Entwicklung. Sein Wissen und sein Kunstverständnis – und damit sein Lebensinhalt – können nur weitergetragen werden, wenn er die richtigen Schüler wählt und sie entsprechend ausbildet. Mehrere Jahre hindurch erhalten die Schüler tägliche Unterweisung, üben unter den Ohren des Gurus und lauschen seinem Üben. Im Vorspielen und Nachspielen, ohne Noten oder andere schriftliche Aufzeichnungen, lernen sie die Spieltechnik des Instruments, einen umfangreicher Fundus von Kompositionen in verschiedenen Ragas und Talas und die Fähigkeit zur Improvisation. Wenn ein Schüler Konzertreife erreicht hat, nimmt der Guru ihn mit auf die Bühne und spielt mit ihm zusammen im Duett. Sein Prestige setzt er damit ein, um einen würdigen Nachfolger bekannt zu machen und ihm künstlerische Anerkennung zu verschaffen.
Für die Entwicklung der technischen Meisterschaft gibt es einen umfangreichen Kanon von Übungen mit Tonleitern, Rhythmus- und Melodieformeln, die auch von großen Meistern regelmäßig im Hinblick auf Kraft, Schnelligkeit, Präzision und Ausdauer durchexerziert werden. Die Übungen sind aber nicht nur reines Techniktraining, sondern schleifen auch melodische und rhythmische Strukturen ein, die dann in der Improvisation benutzt werden können. Gleichzeitig bilden sie Wahrnehmungsraster aus, die das musikalische Geschehen mental strukturieren. Dadurch lernt man, komplexe Zusammenhänge, Tonfolgen und Rhythmen als Sinneinheiten zu verstehen und zu benutzen.
Kompositionen und Improvisation
Kompositionen bestehen meist nur aus zwei bis vier kurzen strophenartigen Melodielinien. Sie sind sozusagen eine aufs Wesentlichste konzentrierte Miniaturdarstellung eines Ragas. Während der Raga selbst sich nie endgültig fixieren und erschöpfend beschreiben lässt, bietet die Komposition ein handliches Vorbild, das durch die Tradition autorisiert ist und an dem man sich orientieren kann. Je mehr Kompositionen der Schüler mental präsent hat, umso plastischer und präziser wird die Raga-Interpretation sein, die er daraus improvisierend entwirft. Die Kompositionen gilt es deshalb detailgetreu auswendig zu lernen und möglichst ein Leben lang im Gedächtnis zu behalten.
Für die Entwicklung der Improvisationsfähigkeit ist es wichtig, von der Musik so viel wie möglich umgeben zu sein, sie beständig auf allen Ebenen in sich aufzunehmen, egal wie weit man sie schon bewusst versteht. Wie bei der Sprachentwicklung des Kleinkindes oder beim Erlernen einer Fremdsprache muss man so viel wie möglich hören, hören, hören. Immer wieder erleben, wie es richtig geht. Erleben durch das Ohr. Wahrnehmen. Mitfühlen. Sich Einschwingen. Aber auch ein bewusstes Lernen gehört dazu: Zunächst improvisiert der Guru eine Melodielinie nach der anderen und der Schüler spielt sie als getreues Echo nach. Ist diese Stufe gemeistert, spielt der Schüler die Phrasen des Gurus nicht mehr als Echo, sondern als Schatten, dicht folgend, fast zeitgleich. Danach beginnt der Schüler, die Melodien des Gurus selbständig mit eigenen Ideen weiterzuführen. Schließlich spielt nur noch der Schüler, schöpfend aus der Erinnerung an zahllose frühere Improvisationen, an die geübten Formeln, an die gelernten Kompositionen; und der Guru hört zu, nickt, kommentiert, gibt nur noch kleine Korrekturen und segnet seinen Schüler, der nun selbst ein Meister geworden ist.
DIE INSTRUMENTE
Sitar – der Klang Indiens
Wohl kein anderes Instrument wird als so typisch indisch empfunden wie die Sitar. Vor allem durch den weltbekannten Sitarmeister Ravi Shankar ist ihr sirrender Klang heute der Inbegriff indischer Musik an sich. Sie ist ein technisch anspruchsvolles Soloinstrument mit meist 20 Saiten. Davon werden allerdings nur sieben als Spielsaiten verwendet. Die restlichen 13 werden nicht angeschlagen, sondern schwingen mit, wenn ihr Ton auf den Melodiesaiten gespielt wird. So sorgen diese Resonanzsaiten für eine Art eingebauten Halleffekt. Ähnlich wie bei der Tanpura setzt am Kürbisresonator ein langer hölzerner Hals an, über den die Saiten laufen. Viele Sitars haben einen zusätzlichen zweiten Resonator oben am Hals. Quer über den Hals gebunden sind metallene Stege (Bünde), auf die man die Saiten runter drückt, um die Tonhöhe zu verändern – ähnlich wie bei einer Gitarre. Man kann die Tonhöhen aber auch fließend verändern, indem man die auf den Bund gedrückte Saite seitlich wegzieht und so ihre Spannung erhöht. Mit dieser Technik lassen sich besonders gut die gleitenden Tonbewegungen der menschlichen Stimme nachempfinden – schließlich leitet sich die indische Klassik vom Gesang ab. Sie ist allerdings auch besonders schwierig zu beherrschen. Aber keine Angst – auf einer gut gestimmten Sitar können auch Anfänger schnell faszinierende typisch indische Klänge erzeugen!
Tanpura – Symbol der Ewigkeit
Noch bevor der erste Ton eines Ragas erklingt, ist in klassischer indischer Musik fast immer ein feiner schimmernder Klangteppich zu hören, der während der ganzen Raga-Darbietung im Hintergrund unverändert weiterläuft. Er wird auf der Tanpura gespielt, einem der zugleich unbekanntesten und wichtigsten traditionellen Instrumente. Die Tanpura definiert mit ihrem immer gleich bleibenden Bordunklang den Grundton – sie ist das Fundament, auf dem der ganze filigrane Raga-Tempel aufbaut; die Leinwand, auf der das Raga-Gemälde gemalt wird; die Erde, auf der der Raga tanzt. Tanpuras haben meist vier bis fünf Saiten, die immer nur offen in gleich bleibendem Rhythmus gezupft werden. Der Anschlag erfolgt dabei so weich, dass die Schwingungen der einzelnen Saiten zu einem kontinuierlich schillernden Dauerklang zu verschmelzen scheinen. So symbolisiert die Tanpura den ewigen Urgrund des Seins, aus dem die gesamte (musikalische) Schöpfung hervorgeht. Da Tanpuras auf den jeweiligen Grundton von Sänger oder Instrument gestimmt werden müssen, gibt es sie in allen möglichen Größen und Formen. Typisch ist die Bauart mit großem getrockneten Kürbis als Resonanzkörper und daran angesetztem langen Hals aus Holz. Im Konzert spielen meist Schüler der Hauptkünstler die Tanpura.
Tabla – Universum der Rhythmen
Schneller als die Augen folgen können tanzen die Finger über die Tablas und entfachen einen rhythmischen Wirbelsturm, den man einem einzelnen Musiker nie zugetraut hätte. Wer je einen guten Tablaspieler live erlebt hat, dürfte das Erlebnis nie vergessen. Die Tabla ist eines der komplexesten Rhythmusinstrumente der Welt und bietet eine so große Fülle von Spielmöglichkeiten wie sonst eine ganze Percussion- Gruppe. Sie besteht aus zwei Handpauken, die immer als Paar zusammen eingesetzt werden. Die kleinere ist aus schwerem Holz und kann sowohl mehrere genau stimmbare glockenklare Töne erzeugen als auch geräuschhafte Slaps und Taps. Die größere bauchige Pauke, meist aus verchromtem Kupfer, sorgt für die Bässe. Durch Druck und Bewegung der auf dem Fell liegenden Spielhand kann die Tonhöhe mit unglaublicher Flexibilität verändert werden, so dass das Instrument regelrecht zu sprechen scheint. Entscheidend für den Klang ist eine schwarze Paste aus gekochter Reismasse und Eisenspänen, die in einem komplizierten Arbeitsprozess auf die Felle aus Ziegenhaut aufgetragen wird. Tablasounds gibt es heute auch als digitale Samples, die mittlerweile in den verschiedensten Musikstilen eingesetzt werden.
Harmonium – Europa in Indien
Das Harmonium hat die Sarangi in der Gesangsbegleitung weitgehend verdrängt – ein ungemein praktisches, einfach zu spielendes Instrument. Erfunden wurde es im 19. Jahrhundert in Europa und dann nach Indien importiert und modifiziert. Im
Westen ist es inzwischen praktisch ausgestorben, aber in Indien ist es heute für alle klassischen und semi-klassischen Gesangsstile ebenso das universale Begleitinstrument wie für spirituelle Lieder verschiedenster Traditionen – von Bhajan-, Kirtan- und Mantragesängen bis zu Qawwali und Shabad. Das Harmonium muss nicht gestimmt werden, man braucht keine Übung, um überhaupt einen Ton zu erzeugen und man kann eine Gesangsstimme gut damit unterstützen, ohne ihr dabei in die Quere zu kommen. Man pumpt einfach mit einer Hand den an der Rückseite angebrachten Blasebalg und drückt mit der anderen den gewünschten Ton auf der Tastatur – ideal für jedermann. Als klassisches Soloinstrument wird es bisher aber nicht verwendet.