Über Kriya-Yoga, Wind, Mond und Sterne

Dieser Artikel wurde in der Zeitschrift „Welt der Spiritualität“ 2/2022 veröffentlicht

Lass uns mit den Planeten beginnen – das ist naheliegend, denn wir leben auf einem. Swami Sri Yukteswar Giri (1856 – 1936) ist den meisten durch sein Buch „Die heilige Wissenschaft“ und durch seinen Schüler Paramahansa Yogananda (1893 – 1952) und deren Vermittlung von Kriya-Yoga bekannt. Eher im Verborgenen geblieben ist die Tatsache, dass Sri Yukteswar ein Meister der vedischen Astrologie, auch Jyotish genannt, war. Den Unterschied zwischen der bei uns sehr verbreiteten westlichen (tropischen) und der weniger bekannten vedischen (siderischen) Astrologie erfährt man am einfachsten in einer sternenklaren Nacht an einem dunklen Ort mittels eines Smartphones mit einer „Skyview-App“.

Swami Sri YukteswarDie „Große Konjunktion“ (die alle 20 Jahre eintrifft) brachte im Dezember 2020 die westliche astrologische Welt ins Schwärmen und wurde als Eintritt in eine neue und lang ersehnte flexible Luftepoche gefeiert. Laut astrologischen Computerprogrammen befanden sich die Planeten Saturn und Jupiter zu der Zeit beide auf 0 Grad Wassermann und damit in einem Luftzeichen. Mit der zuvor erwähnten App war aber klar, dass am Himmel die beiden Planeten im Sternbild Steinbock und damit in einem Erdzeichen zu sehen waren. Beim Nachschlagen in einer astronomischen Tabelle konnte die Position der beiden Planeten auf 6 Grad Steinbock festgestellt werden. Woher kommt der Unterschied von 24 Grad? Vom Universum! Von der Erde aus gesehen hat sich das Universum um 24 Grad gedreht, seitdem die Position des Tierkreises der westlichen Astrologie vor fast 2000 Jahren festgelegt wurde. Das Universum verlagert sich sozusagen alle 72 Jahre um ein Grad. Wer in der westlichen Astrologie ein Wassermann ist, ist höchstwahrscheinlich in der vedischen Astrologie ein Steinbock.

Um eine allgemeine Empörung über diese Aussage gleich aufzufangen, kann gesagt werden, es ist gar nicht so schlimm! In der vedischen Astrologie ist es nicht der Knackpunkt, in welchem Sternzeichen sich die Sonne bei der Geburt befand. Aussagekräftiger ist, welches Sternzeichen gerade am östlichen Horizont aufging, als man zur Welt kam – der Aszendent. Wenn dieses Sternzeichen bei dir die Jungfrau war, befindet sich dein erstes Haus in der Jungfrau, dein zweites Haus ist dann in der Waage, dein drittes Haus im Skorpion und so weiter. Es gibt damit so viele Sternzeichen wie Häuser – zwölf Stück.

Die Häuser beschreiben zwölf verschiedene Aspekte des Lebens. Laut der vedischen Astrologie kann das vierte Haus eine Aussage über das Verhältnis zur Mutter geben. Für das Horoskop in Betracht gezogen werden die Planeten im vierten Haus sowie deren Verbindungen zu allen anderen Planeten, zum Mond und zur Sonne. Die Vorgehensweise einer Tiefenanalyse ist sehr komplex und soll hier nicht im Vordergrund stehen. Nur kurz: Das neunte Haus bringt das Verhältnis zum Vater ans Licht, das dritte Haus handelt von Geschwistern, das siebte Haus gibt Auskunft über unsere Ehe oder Beziehungen.

YoginiDabei ist ein vedisches Horoskop zugleich eine Zeitspirale. Möchtest du etwas über deinen Großvater wissen, beispielsweise den Vater deiner Mutter, zählst du von deinem Mutterhaus, dem vierten Haus, neun Häuser weiter (das vierte Haus mitzählen) und landest im zwölften Haus, das dir die gewünschten Auskünfte gibt. Auf dieselbe Weise kannst du dir beispielsweise auch Aspekte für Kinder und Enkelkinder und andere Verwandte und für dich relevante Personen in der Vergangenheit oder der Zukunft suchen.

In der vedischen Astrologie wird die Platzierung des Mondes im Horoskop für wichtig gehalten. Der Tierkreis ist in 27 Mondhäuser unterteilt, die alle einen oder mehrere Fixsterne enthalten. Jedes Mondhaus ist wiederum in vier Teile (Padas) unterteilt, insgesamt ergibt das 108 Padas. Und wenn wir jetzt bei dieser magischen Zahl angekommen sind, soll erwähnt werden, dass der (Mittel-) Abstand zwischen der Sonne und der Erde 108-mal dem Durchmesser der Sonne beträgt. Gleichzeitig beträgt der Abstand zwischen der Erde und dem Mond 108-mal dem Durchmesser des Mondes.

Zurück auf diesem Planeten kann festgestellt werden, dass unser Erdenleben aus irgendeinem ungreifbaren Grund mit der Zahl oder der Schwingung 108 verknüpft ist, was uns zur Mala bringt, der Meditationskette mit 108 Perlen. In der Meditationsform Kriya-Yoga wird eine Mala mit 108 Perlen verwendet – in diesem Fall, um Atemzüge zu zählen – Atemzüge der Ujjayi-Atmung. Und gleich dem Kosmos mit dem Kreisen der Planeten um die Sonne und dem Kreisen des Universums um sich selbst, werden in der Kriya-Yoga-Praxis das Bewusstsein und die Aufmerksamkeit im Takt des Atmens auf eine Reise gesendet. Eine Reise in kontinuierlicher kreisförmiger Bewegung aufwärts durch die psychische Arohan-Passage im vorderen Bereich des Körpers und abwärts durch die Awarohan-Passage in der Wirbelsäule. Auf und ab, herum und herum, eine Rotation des Bewusstseins, die Zeit und Raum durchdringt. Es ist eine psychische Reise durch die Chakras: vom Muladhara Chakra – dem Wurzelchakra am Beckenboden – durch die subtilen Erfahrungsfelder im vorderen Wesenskörper im Bauch- und Brustbereich, weiter zu Bindu, einem Punkt auf dem obersten Teil des Hinterkopfes und von dort abwärts in der Wirbelsäule bis zum Muladhara Chakra.

Obwohl Bindu kein Chakra ist, spielt dieser eine wichtige Rolle im Kriya-Yoga-System. Bindu bedeutet Samen oder Tropfen, weil Bindu eine Quelle ist, aus der Nektar fließt. Nektar oder Amrit ist eine subtile Essenz, die das Leben entfacht. Nektar wird in Bindu destilliert, fließt nach unten zum Vishuddhi-Chakra und schließlich zum Manipura-Chakra. Hier wird er verbrannt und geht verloren. Der Prozess der Zersetzung kann jedoch durch spezielle Kriya-Yogapraktiken invertiert werden. Auf diese Weise wird die Vitalisierung unseres Körpers und der Psyche erhalten und gefördert. Amrit bedeutet Glückseligkeit, Nektar der Wonne. Vor allem ist Bindu ein Fokuspunkt, der es uns ermöglicht, gängige Konstrukte und Paradigmen zu verlassen und zu einer anderen Dimension der Wahrnehmung und des Denkens zu gelangen. Bindu ist ein Tor zu der Erfahrung des erweiterten Bewusstseins. Es ist
in dem Sinne kein Zufall, dass das psychische Symbol von Bindu ein Halbmond in einer sternenklaren Nacht darstellt, das Bild des Kosmos, eine ultimative Dimension mit unendlichen Perspektiven.

Maha Mudra

Bindu ist ebenfalls mit Nada verbunden. Nada bedeutet Klang und gleichzeitig Fluss. Nada ist der subtile, singende Klang, den man im Inneren hört, wenn Körper und Geist im Gleichgewicht sind – wenn erwachtes Bewusstsein und ein freier, kreativer Fluss des Denkens vorhanden sind. In der Hatha Yoga Pradipika heißt es: Stabilität des Geistes führt zur Stabilität des Prana; damit wird auch das Bindu stabil (Hatha Yoga Pradipika 4:28). Das bedeutet, dass die Konzentration, der Atem, die Anwendung von Pranayama und Bindu eng miteinander verbunden sind. Wegen dieser Qualitäten ist Bindu ein wichtiger Knotenpunkt in den Kriya-Yogapraktiken – zur Entwicklung eines kohärenten Bewusstseins.

Auf ihrer Fahrt durch das All bewegen sich die Planeten, von der Erde aus gesehen, durch die zwölf Sternzeichen, beginnend im Widder und endend in den Fischen. Gleichzeitig durchqueren sie die 27 Mondhäuser oder Nakshatras. Davon sind die ersten neun von Rajas-Qualität. Die folgenden neun Mondhäuser sind von Tamas-Qualität. Die restlichen neun Mondhäuser sind von Sattva-Qualität.

Die drei Gunas werden gelegentlich als rein moralische oder psychologische Werte interpretiert. Man ist hektisch oder sogar aggressiv, also rajasisch, stur und faul, tamasisch, rein und heilig, sattvisch. Interessant in diesem Zusammenhang ist Sri Yukteswars Beschreibung der drei Gunas in „Die heilige Wissenschaft“: Diese Elektrizitäten, die sich aus dem polarisierten Chitta entwickelt haben, befinden sich daher ebenfalls in einem polarisierten Zustand und besitzen seine drei Eigenschaften oder Gunas: Sattva, die positive, Tamas, die negative und Rajas, die neutralisierende.Viparita Karani - die Umkehrende Stellung

Hier haben wir das Rezept eines Atoms: das positive Proton, das negative Elektron und das neutrale Neutron. Es ist eine Darlegung einer zugrundeliegenden Gegebenheit unseres Daseins auf diesem Planeten in diesem Kosmos und zugleich die Beschreibung einer Schwingung oder eines Prozesses – einer Kriya.

Kriya-Yoga in der tantrischen Form, wie er von Swami Satyananda Saraswati (1923 – 2009) vermittelt wurde, besteht aus 22 Kriyas, Übungen oder Prozesse, die in einer festgelegten Reihenfolge praktiziert werden. Wiederkehrende Elemente in der Praxis sind Mudra, Atemkontrolle und Visualisierungen. Die Kriyas sind in drei Gruppen unterteilt: Pratyahara, (Auflösung der Sinneswahrnehmungen), Dharana, (Konzentration, Vertiefung) und Dhyana, (Meditation, Transformation) oder mit anderen Worten: unterteilt in neutralisierende, energetisierende und verknüpfende Handlungen.

In seiner vollständigen Form dauert das Praktizieren von Kriya-Yoga vier bis fünf Stunden. Es gibt auch verschiedene kürzere Reihen. Im Harbergen Retreat Zentrum wird Kriya-Yoga zweimal im Jahr im 14-tägigen Sadhana-Retreat unterrichtet. Im Juli, in der Zeit des Vollmondes Guru Purnima, verbinden wir uns mit der Quelle des kosmischen Wissens. Im März, in der Zeit des Phalguna-Neumondes, vollbringen wir Wunder, die das Leben ein ganzes Jahr lang erhellen.

Eine Anleitung zur anfängerfreundlichen Kurzform von Kriya Yoga – Quelle der Energie – ist in unserer Podcast-Bibliothek zu finden: www.yogaimzentrum.de/leseecke/podcasts/ Auf der Podcastseite gibt ist auch Anleitungen zu den Entspannungsübungen Yoga Nidra und Prana Nidra sowie zur Meditation Antar Mouna.  Symbol Artikel Ende

Über die Autoren:
Yoga Shakti und Yogacharya Hamsananda leiten seit 35 Jahren die Yogaschule „Yoga im Zentrum“ in Hannover und seit 2008 das „Harbergen Retreat Zentrum“ im norddeutschen Weserraum. Sie sind meister der tantrischen Yoga- und Meditationstradition. Ihre Schwerpunkte sind Kriya Yoga, Prana Vidya (eine Methode zur Verjüngung und Genesung) und Antar Mouna (die innere Stille Meditation). Sie führen mit Leidenschaft die Linie der indischen Yogi Swami Satyananda Saraswati weiter. Mehr über vedisches Wissen: www.vastu-vasati.de

Bildnachweis

  • Sternenhimmel: Felix Mittermeier
  • Yogini: Ajit Mookerjee
  • Swami Sri Yukteswar: Sri Yukteswar, Public domain, via Wikimedia Commons
  • Die umkehrende Stellung – Viparita Karani:  Detlef-René Spanka