Die fantastische Welt der Träume

und was sie uns lehren können. Über Yoga, Meditation und das Träumen


Der isländische Träumer

In seinem Buch „Draumer” von 1912 berichtet Hermann Jónasson über seine speziellen Fähigkeiten. Als junger Schäfer erfuhr er im Traum den Aufenthaltsort verschollener Schafe. Seine Nachbarn freuten sich wenn ein Schaf, manchmal tief im Schnee begraben, wiedergefunden wurde. Ein kleines Mittagsschläfchen reichte oft aus, um im Traum, verloren gegangene Tieren aufzuspüren. Einmal hatte er einen Traum, der sein Leben rettete: Als er in einem Schneesturm auf einem Pass die Orientierung verlor, hielte er sich an die „Anweisungen” eines früheren Traumes, um wieder zum Tal zu gelangen. Ohne sie wäre er der Natur ausgeliefert gewesen.

Seine Fähigkeit als Orakel kam auch bei einer anderen Gelegenheit zum Einsatz: Im Traum wurde ihm erklärt, dass Njals Saga, eine der bekanntesten Sagen von Island und ein nationales Kleinod, nicht wahrhaft sei. Anschließend wurde ihm die wahre Geschichte von Njal und dem traurigen Schicksal seiner Familie beigebracht, mit der Bitte sie niederzuschreiben. Als Belohnung solle er mindestens bis zur Veröffentlichung am Leben gehalten werden. Hermann Jónasson lies im Alter von 85 Jahren sein Buch mit der revidierten Erzählung von Njals Saga erscheinen.

Das hypnagoge Stadium

Den Zustand zwischen Wachsein und Schlaf nennt man hypnagoges Stadium. Es funktioniert wie eine Art Auflockerung der Denkmuster. Träume erscheinen als ein Sammelsurium aus Handlungen, Ereignissen und Menschen, die wir kennen oder eben nicht wiedererkennen. Es gibt Träume, die einen klaren Bezug zu wirklichen Ereignissen haben und solche, die scheinbar nur Geschichten sind. Im hypnagogen Zustand bewegen wir uns zwischen der realen und surrealen Welt. In dieser Übergangzone lernen wir, Dinge anders zu sehen.

Sind wir im alltäglichen Leben zu einem Punkt gekommen, wo wir glauben, alles zu wissen, für alles eine Erklärung zu haben, ohne sich fragen zu müssen, ob das nun so ist, können wir im hypnagogen Zustand den Entdeckergeist wiederbeleben. Durch das Schlummern und in der Traumwelt des Schlafes treten wir in Kontakt mit den Hebeln, die unser Sein und Werden berühren. Es findet eine Wiedereroberung von Fähigkeiten und einer neuen Perspektive, von Einsicht und Vielfalt statt. Diese im Schlaf wiederkehrende Erforschung des eigenen Selbst wird in der Meditation vertieft und perfektioniert.

Wenn ich ruhig mit geschlossenen Augen sitze, richtet sich meine Aufmerksamkeit nach einer Weile nicht mehr auf die Umgebung und deren Sinneseindrücke, sondern eher auf das, was mich innerlich beschäftigt. Wenn ich das Kommen und Gehen von Gedanken zulasse, kommt es zu einem entspannten Verhältnis der Innenwelt gegenüber; ich verliere quasi langsam das Interesse. Stattdessen intensiviert sich das innere Raumgefühl, die Wahrnehmung des inneren Raumes. Auf dieser Ebene können archetypische Symbole wie geometrische Formen, mythischen Gestalten oder Tiere, beispielsweise eine Schlange, vorkommen. Es ist anzunehmen, dass Hermann Jónasson eine besondere Gabe hatte in diesem Zustand zu verweilen, um zu Informationen zu gelangen, die über das normale Verständnis von Zeit und Raum hinausgingen.

In unserer langjährigen Tätigkeit als Yoga- und Meditationsslehrer erleben wir, dass intensives Üben die Traumaktivität erhöht. Auf den Retreats in Harbergen entwickelt sich bei den Teilnehmern öfters eine ungewöhnlich lebendige Traumaktivität. Wir sehen das als ein Zeichen, dass sich Menschen in einem solchen Prozess mit sich selbst tief verbinden.

Naturvölker

Naturvölker pflegen ein enges Verhältnis zu ihren Träumen: „Für viele Naturvölker sind Traumprozesse wirklicher als das Wachsein. Der Traum wird als ein geänderter Bewusstseinszustand erlebt, in dem die Seele eine grössere Entfaltungsmöglichkeit hat und sich auf einem höherem Bewusstseinsniveau bewegt als im wachen Zustand“, schreibt Ole Vedfelt.

Beim Volk der Senoi, das abgeschieden in den tropischen Regenwäldern von Malaysia lebt, ist ein Grundstein seiner konfliktfreien Kultur und seines Umgangs miteinander die Auseinandersetzung mit Träumen. Kilton Stewart, der sein Doktortitel auf Basis seiner Arbeit mit den Senoi 1935 verteidigte, bekennt: „Träume sind die tiefste Art von kreativem Denken.“

In einer Beschreibung der nordamerikanischen Indianer gibt Lis Andersen an: „Nicht selten wurden Träume dazu verwendet psychische Probleme zu lösen, weil man sich darüber im Klaren war, dass die Träume verdrängte Bedürfnisse offenbarten“

Traumforschung

Auch die moderne Forschung offenbart neue Erkenntnisse: „Neuere Forschung deutet darauf hin, dass Träume Angst entgegenwirken, weil persönliche Probleme im Traum behandelt werden“, schrieben Carsten Bo Mortensen und Kollegen im Jahr 2010.

Eine interessante Entdeckung, die den ganz alltäglichen Nutzen klarstellt und der erlebten Schlafqualität neue Perspektive gibt, kommt ebenfalls aus der Forschung: Viele Menschen mit Schlafstörungen und Schlaflosigkeit schlafen tatsächlich – sie träumen jedoch, dass sie schlecht geschlafen haben!

Diejenigen, die meinen, nur wenig zu träumen oder gar nicht, sollten hier genau zuhören: Der Schlaf beginnt mit einer Periode von Tiefschlaf von ca. 90 Minuten, abgelöst vom sogenannten REM-Schlaf von ca. 15 Minuten. REM bedeutet Rapid Eye Movement, schnelle Augenbewegungen. Es ist eine Zeitspanne, in der die geschlossenen Augenlider zittern und sich schnell bewegen und das Gehirn sehr aktiv ist.

Schlafprobanden im Schlaflabor können, wenn sie in dieser Phase geweckt werden, über besonders lebendige Träume berichten. Im Großen und Ganzen wiederholt sich dieses Muster durch die ganze Nacht. Tatsächlich ist jedoch durchgehend Traumaktivität vorhanden.

Das Traum-Tagebuch: Methoden um sich an Träume leicht erinnern zu können

Bleibe beim Aufwachen ganz still und rufe deinen Traum auf. Rückwärts ist womöglich das Beste, denn dann hast du die Chance, dass die Ereignisse im Kurzzeitgedächtnis dich automatisch in eine immer anhaltende Geschichte leiten. Ohne andere unnötigen Bewegungen nimmst du dein nebenliegendes Traumtagebuch und schreibst den Traum auf. Vermeide unnötige Bewegungen, denn dann kann vieles in Vergessenheit geraten. Träume sind sehr persönlich, deshalb geht es keinen Menschen etwas an, was du schreibst. Schreibe auf die erste Seite des Buches groß und fett: Privat!

Hamsananda: „Als ich im jungen Alter mit dem Traum-Tagebuch anfing, reichte für den ersten Eintrag eine halbe Din A4-Seite. Nach einigen Wochen erreichte ich mit 30 Seiten einen Punkt, an dem ich nicht genug Zeit hatte, morgens alles zu verarbeiten. Das Ergebnis war nicht die schiere Menge und die tausendfaltigen Inhalte, sondern eher ein Erlebnis davon, im Fluss zu sein. Ich sah mich zunehmend als einen Teil von etwas ganz Großem anstatt nur ein einzelnes Individuum zu sein. Ich erlebte das Universum und den Kosmos in meiner eigenen Zellstruktur.“

Im Yoga nennen wir diesen Zustand Dharana – konzentriert zu sein, sich im Fluss zu befinden unter Abwesenheit von Zweifel und Zerstreutheit.
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Quellen:

  • Charles T. Tart: Altered States of Consciousness. 1969
  • Ole Vedfeldt: Bevidsthedens niveauer (Die Schichten des Bewusstseins). Verlag Gyldendal, Kopenhagen 2015
  • Hermann Jónasson: Draumer
  • Carsten Bo Mortensen, John Rydahl, Mette Tuneberg: Liv og religion (Leben und Religion). Verlag Gyldendal, Kopenhagen 2010
  • Lis Andersen: Vore drømme – retningsvisere til et bedre liv (Unsere Träume – Richtungsweiser zu einem besseren Leben).
    Verlag Lindhardt und Ringhof, Kopenhagen 2017