Von Hamsananda
Die tantrische Tradition
Teil I – über ein Besuch in Khajuraho
Khajuraho ist eine der grössten und spektakulärsten Tempelanlagen Indiens. Sie wurde zwischen dem 9. und 11. Jahrhundert gebaut, verlor aber im 16. Jahrhundert an Bedeutung. Im Jahre 1838 entdeckte ein englischer Offizier den damals unzugänglichen Ort für die Außenwelt neu. Aber erst 1955 wurden die Tempel aus dem Griff der Verwilderung befreit und instand gesetzt. Heute hält das Ensemble aus ursprünglich 85 Tempeln, 22 davon in gepflegtem Zustand für die Besucher bereit. Khajuraho wurde von der Unesco als Weltkulturerbe ausgezeichnet. Durch seine erotischen Darstellungen ist die Anlage als tantrischer Tempel bekannt. Was das genau bedeutet, dazu später. Denn zuerst müssen wir dort hin.
Unsere kleine Gruppe nimmt den Zug aus Agra nach Jahnsi. Von da geht es mit dem Auto über Madhya Pradesh´s Straßen weiter. Madhya Pradesh ist einer der ärmsten Bundesstaaten Indiens und die Straßen, falls man sie so nennen mag, zeugen von dieser Signatur des Landes. Lange Reihen von Bäumen säumen den Weg und wechseln sich mit kleineren und größeren Dörfern ab.
Wir fahren mitten durch die Dörfer und uns ist als würden wir durch das Wohnzimmer Indiens fahren, denn das Leben spielt sich auf der Straße ab. Die kleinen Häuser, Läden und Werkstätten verstecken nichts, alles öffnet sich zur Straße. Hier spielen die Kinder, hier wird gegessen, gespült, die Kleidung gewaschen. Hier arbeitet man und hier ruht man sich aus. Dazwischen wandern unbeeindruckt Kühe in einer Wolke aus Staub, Matsch und Plastikabfällen hin und her. Gemächlich, aber majestätisch durchqueren sie den dichten Verkehr auf der Dorfstraße und bleiben dort unter Umständen einfach stehen oder liegen und genießen den Puls des Lebens. Das ist es auch, was wir suchen. Der Abend kommt, die Dunkelheit umarmt uns. Nach einem langen Tag erreichen wir Khajuraho.
Die in Sandstein gebauten und gemeißelten Tempel sind innen wie außen mit hunderten kleinen und grossen Figuren und Reliefs geschmückt. In grenzenloser Kreativität und Fantasie sind hier alle möglichen und unmöglichen Disziplinen der Liebeskunst dargestellt. Darüber hatte sich Mahatma Gandhi zu seiner Zeit aufgeregt und damit bei den Menschen Unmut geschürt, die Khajuraho als unmoralisch empfanden. Der Dichter, Kultur- und Sozialreformer Rabindranath Tagore dagegen besänftigte die Gemüter und forderte Gandhi auf, diese einzigartige Kulturstätte zu bewahren.
Man versteht, warum die Tempel bekannt wurden, denn es sind die sexuellen Plastiken, die nach einem Besuch unauslöschlich in Erinnerung bleiben. Sie haben das Bild von Tantra geprägt.
Nach der Besichtigung allerdings wird klar, dass die erotischen Szenen nur einen begrenzten Teil der Ganzheit zeigen. Denn es gibt Abbildungen von allen Lebenssituationen und täglichen Aktivitäten der Menschen: Spielende Musikanten, marschierende Krieger, Menschen beim Getreidemahlen, beim Kochen, eine weinende Frau, einen wütenden Mann und vieles mehr.
Wir haben gefunden, was wir suchten. Tantra ist nicht nur eine sexuelle Praxis, Tantra zeigt uns die W i r k l i c h k e i t selbst, die Ganzheit, den Reichtum und den Puls des Lebens in allen seinen nur denkbaren Facetten: Passion und Hingabe als Lebenselixier, eine Huldigung an das Leben, in der alle Aspekte wichtig und intensiv sind und alle ihre Wertschätzung erfahren.
Dies ist der grundlegende Geist der Tradition, die sich über die Zeiten hinweg in diverse Richtungen gewandelt hat. Tantra, wie wir ihn vertreten und wie unser Besuch an ursprünglicher Quelle in Khajuraho ihn uns bestätigt hat, beruht auf den Hauptthemen geschildert in Teil II.