Prana, Yama und Kriya-Yoga
Dieser Artikel wurde ursprünglich in der Zeitschrift Yoga Aktuell Nr. 136, Oktober / November 2022 als dritter Teil einer Trilogie veröffentlicht.
Kriya-Yoga ist eine Methode, um das Bewusstsein in all seinen Facetten zu erforschen und unsere tieferliegenden Instinkte zu wecken. Er ist ein Ritual, das das Bewusstsein wach und aufmerksam hält und es schließlich in einem Punkt sammelt. Kriya-Yoga mündet in Ananda, Freude, und Atman, eins und in Harmonie mit sich selbst zu sein. Er mündet in einer Integration der fünf Koshas, der physischen, psychischen, astralen und kausalen Dimension unseres Lebens.
„Kriya Yoga ist ein Ritus, eine Zeremonie,
eine Methode, eine Sadhana.
Er ist eine Methode,
um die eigenen Kräfte zu verfeinern,
wodurch individuelles Bewusstsein
die Tiefe unserer Natur durchdringen kann.“
Swami Satyananda Saraswati
Dieser Beitrag ist der dritte in einer Reihe Artikel über Pranayama – die Werkzeuge, die Prana (die Vitalkraft) zugänglich machen. Im ersten Beitrag (Yoga Aktuell Nr. 133) wurden einige klassische Pranayamas beschrieben. Der zweite Beitrag beschreibt die Meditation Prana Vidya, die eine direkte Erfahrung von Prana ermöglicht (Yoga Aktuell Nr. 134). Schließlich möchten wir hier Kriya-Yoga und die darauf vorbereitenden Übungen beleuchten.
Erweckung der Kundalini
Kundalini Yoga ist die übergeordnete Begrifflichkeit für das Erwecken des Prana. Die Bezeichnung ist allerdings heute nicht einheitlich. Hier wird sie im Rahmen des klassischen, traditionellen Verständnisses erklärt. Die Erweckung der Kundalini geschieht in mehreren aufeinander folgenden Schritten.
Die Reinigung der Nadis
Um im Yoga-Kontinuum anzukommen, ist Kontinuität im Gebrauch von Yogahaltungen, Pranayama und Meditation erforderlich.
Erweckung der Chakra.
Wenn die Wirkung der Yogahaltungen verinnerlicht wurde, dann sollte der Schwerpunkt der eigenen Praxis zunehmend auf Pranayama gelegt werden. Pranayama sensibilisiert und verfeinert die Wahrnehmung und ist die Grundlage für die Bewegung der Kräfte. Die Chakras sind ein wichtiger Bestandteil unserer psychischen Struktur. Sie erlauben Zutritt zu verborgenen Fähigkeiten und ermöglichen eine neue Art, mit der Welt zu kommunizieren. Die Chakra drücken die elementaren Kräfte und Instinkte im Menschen aus; einige davon sind angewandt, andere verborgen oder unzugänglich. Durch Meditation und Yoga-Nidra wird der Grenzbereich zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten erfahren, und eine höhere Konzentration erreicht. Die Energie bekommt Form und Richtung.
Das Erwachen der Kundalini
Dies sind die grundlegenden Erfahrungen, die zur nächsten Ebene führen. Nach und nach wird deutlich, wie die unterschiedlichen Energien zu verstehen, zu verwandeln, zu kanalisieren und zu nutzen sind. Prana, Pranayama und die Verortung des Bewusstseins bilden also eine wichtige und notwendige Verbindung. Die Meditationen, die dies ermöglichen, werden nun erklärt.
Vishuddhi-Shuddhi (DAs Vishuddhi-Chakra reinigen)
Die Kshetras von Manipura-Chakra und Vishuddhi-Chakra und ihre Verbindung werden „the frontal being“ (der vordere Wesenskörper) genannt. Dieser ist ein sehr emotioneller Bereich unseres Wesens, der zwischen dem Hals und dem Bauchnabel wahrgenommen werden kann. Wenn man rastlos und emotional abhängig ist, stockt die Entwicklung des spirituellen Lebens. Vishuddhi-Shuddhi ist eine Meditationsform, die die Passage zwischen Manipura-Kshetra und Vishuddhi-Kshetra reinigt und harmonisiert. Eine wichtige Grundlage in Vishuddhi-Shuddhi ist das Ujjayi-Pranayama, welcher die Grundversorgung der Wandlung ermöglicht (siehe Infobox).
Ajapa Japa (das, was bei Wiederholung von allein passiert)
Ajapa-Japa baut auf Vishuddhi-Shuddhi auf. Im ersten Teil der Meditation gibt der Ujjayi-Atem Rhythmus und Takt vor und generiert einen Raum, in dem der Geist sich frei bewegen kann. Er beginnt, frei zu assoziieren: Gedanken, Eindrücke, Erinnerungen fangen an – ungeordnet, manchmal nur als Fragmente, die vielleicht nur im Bruchteil einer Sekunde da sind und dann wieder nicht mehr –, in einem gelösten Strom vor dem inneren Auge vorbeizuströmen. Dem zum Trotz wird die Aufmerksamkeit der Übenden in einem vorgegebenen mentalen Verlauf gehalten. Im zweiten Teil der Meditation wird der Geist gesammelt, das Bewusstsein wird an der Istha-Devata, dem psychischen Symbol, festgehalten. Die Konzentration kommt wegen des festgelegten Ablaufes sukzessive, unangestrengt, aber vehement zustande. Hier sollte man verstehen, dass Konzentration ein Zustand ist, in dem nur ein Objekt vorhanden ist. Der Geist ist ruhig, man befindet sich in einem störungsfreien Raum und doch sind die Dinge näher herangerückt.
Kriya-Yoga
Vishuddhi-Shuddhi und Ajapa-Japa sind wichtige Vorbereitungen auf Kriya-Yoga. Kriya-Yoga in der tantrischen Tradition ist technisch gesehen eine Reihe aus zweiundzwanzig aufeinander folgenden Kriyas (Übungen, Handlungen) bestehend aus Atem, Mudra und Meditation. Der Verlauf kann bis zu mehrere Stunden andauern. Kriya-Yoga wird in einer Schweigeperiode unterrichtet. Die Schweigeperiode ermöglicht dem Schüler größere Konzentration und einen besseren Lernprozess.
Der Vorhang und die Realität hinter der Realität
Eine Melodie, die seit Jahren nicht mehr gehört wurde, taucht wieder im inneren Radio auf, und das Szenario und die Emotionen von damals erwachen erneut. Ein Duft von früher und das Gefühl, das einen damit verband, werden wieder präsent. Man kann sich an alles erinnern, die Vergangenheit, das Leben bis jetzt.
Ein skandinavischer Film, gedreht Mitte der 1980er Jahre erzählt unter dem Titel „Inuit“ die Geschichte von der Geburt eines grönländischen Ureinwohners. Er konnte sich später ganz genau an seine Geburt erinnern, weil sein Bruder in dem Moment durch die Tür kam, heimgekehrt von einem fernen Ort. Der Name dieses Ortes wurde dem Neugeborenen gegeben.
Die Träume, die wir nachts erleben, erinnern uns daran, dass das Bewusstsein auch nach dem Ausschalten der Bettlampe keinesfalls schlafen geht. Selbst wenn man meint, nicht viel zu träumen, so träumt doch jeder – ohne sich dessen unbedingt bewusst zu sein. Hier geht es jedoch in erster Linie um die Feststellung: Das Leben geht selbst nachts fulminant weiter.
Unser Wesen ist unendlich, selbst wenn wir es in diesem Augenblick nicht begreifen. Es ist ein Gefühl, Teil von etwas Größerem zu sein. „Eine Reise zu den großen Dingen“, sagen die Ureinwohner Australiens.
Dies ist eine Art und Weise, eine spirituelle Entwicklung durch Kriya Yoga zu beschreiben, auch wenn es sicherlich andere gibt.
Die Flamme oder ein nach oben strebendes Feuer mit sprühenden Funken ist für den Außenstehenden vielleicht nur ein Bild – für den Eingeweihten ein Befreiungsschlag und eine Vollendung.
Im Harbergen Retreat Zentrum wird Kriya-Yoga zweimal im Jahr im 14-tägigen Sadhana-Retreat unterrichtet. Im März, in der Zeit des Phalguna-Neumondes, vollbringen wir Wunder, die das Leben ein ganzes Jahr lang erhellen und im Juli, in der Zeit des Vollmondes Guru Purnima, verbinden wir uns mit der Quelle der kosmischen Liebe.
Teil eins und zwei der Trilogie sind hier zu finden:
→ Teil 1: Auf dem Weg zu dir Selbst – eine erste Einführung in Pranayama, den erstaunlichen Schlüssel zur Lebensenergie
→ Teil 2: Prana und die Kraft der Kohärenz
INFOBOX 1
Ujjayi Pranayama
Setz dich in eine Meditationsstellung und schließ die Augen. Bei diesem Atem wird ein fein flüsterndes Geräusch im Hals erzeugt. Es entsteht durch eine leichte Einengung der Stimmlippen. Das Geräusch erinnert an Flüstern oder Hauchen, ist allerdings ein wenig stärker und sollte möglichst gleichmäßig sein. Ein- und Ausatmen sind etwas tiefer als beim normalen Atmen, die Ausführung sollte zugleich entspannt sein. Dem Ein- und Ausatmen folgt immer eine kurze Atempause. Ein festgelegtes Verhältnis zwischen der Einatmung, dem Anhalten, der Ausatmung und dem Anhalten nach der Ausatmung bestimmt den Rhythmus dieser Atmung (6 : 3 : 6 : 3).
Während des Ujjayi-Atems wird die Zunge nach oben gebeugt, bis die Spitze der Zunge den weichen Teil des Gaumens berührt. Diese Haltung heißt Khechari-Mudra. Sie erhöht die Speichelproduktion, so dass der Hals während Ujjayi nicht trocken wird. Außerdem verbessert sie die Konzentration, eine sehr nützliche Eigenschaft. „Khechari-Mudra“ heißt „Fliegen durch Raum“ im Sinne von „Bewegung durch Bewusstsein“.
Ujjayi hat eine Art Selbstausgleich, der in einem natürlichen Zustand zum Ausdruck kommt: Kraft, Energie und Entspannung – der Atem ist der Schlüssel dazu. Bei der Ujjayi-Atmung erinnert sich der Körper daran. Das ist das Faszinierende an dieser Atemübung. Anders formuliert: Zwischen den beiden Polen des autonomen Nervensystems, dem parasympathischen, symbolisiert durch „Ruhen unter den Palmen“, und dem sympathischen, das mit dem Formel „Kampf oder Flucht“ charakterisiert wird, pendelt sich nun eine Balance ein. Wenn das sympathische Nervensystem über längere Zeit dominiert, dann wird zu viel Kraft verbraucht. Mit Ujjayi dagegen kommt zunehmend Entspannung ins Bild. Ein aktiver Mensch und zugleich entspannt zu sein ist kein Widerspruch.
INFOBOX 2
Vishuddhi Shuddhi
Setz dich in eine Meditationsstellung, schließ die Augen und lass den Körper zur Ruhe kommen. Beginne den Ujjayi-Atem und lasse den Atem erst einmal zu einer Routine mit Leichtigkeit werden.
Nach einigen Minuten nimm einen Kanal vorne im Oberkörper zwischen dem Bauchnabel und dem Hals wahr. Erlebe auf diesem Weg, wie Luft in diesem Kanal mit dem Einatmen nach oben zum Hals und mit dem Ausatmen nach unten zum Nabel fließt. Erlebe hier, wie Luft in ständiger Bewegung und zusammen mit dem Atem auf und ab strömt, als wenn eine warme, leichte Sommerbrise deine nackte Haut berührt. Halte den Atem nach der Einatmung an und spür in dieser Atempause den Hals. Halte den Atem ebenso nach der Ausatmung an und spür in dieser Atempause den Nabel.
Erlebe dies, als ob es von selbst geschieht. Überlasse alles dem Atem.
Übe wie bisher weiter und füge das Mantra So-Ham hinzu. Erlebe mit jedem Einatmen SOOOO, erlebe mit jedem Ausatmen HAAAAMMM. Halte die Aufmerksamkeit bei dem, was du tust: Erlebe SO mit der Einatmung, dann halte den Atem an und verweile im Hals, atme aus mit HAM, halte den Atem an und verweile am Nabel. Bleibe 10 – 15 Minuten dabei, später auch länger.
Nun beende den Ujjayi-Atem, bleib ganz still. Richte deine Aufmerksamkeit auf den Kopf, beweg sie in die Mitte des Kopfes hinein und erlebe dort einen Raum – einen Raum, der nicht durch die Größe des Kopfes oder des Körpers begrenzt ist. Erlebe diesen inneren Raum.