Pranayama, die Atemübungen des Yoga

Auf dem Weg zu dir selbst: eine erste Einführung in Pranayama, den erstaunlichen Schlüssel zur Lebensenergie

Dieser Artikel wurde ursprünglich in der Zeitschrift Yoga Aktuell Nr. 133, April / Mai 2022 als erster Teil einer Trilogie veröffentlicht.

Die Sprache erzählt uns viel über den Atem. Wir wissen es schon, wenn wir einen Augenblick darüber nachdenken: „Inspiration“ bedeutet sowohl Einatmen als auch das, was unseren mentalen Nährboden stärkt. „Atemberaubend“ heißt, dass wir vor etwas ganz Fantastischem stehen, so spürbar, dass es uns den Atem verschlägt, uns atemlos werden lässt, was auch die nächste Wortbedeutung, das Atemanhalten, erklärt. Im Deutschen bezeichnet man einen Menschen, der über Ausdauer, Beständigkeit und Hingabe verfügt, als jemanden, der einen langen Atem hat. Der Atem lüftet das Geheimnis darüber, wo wir uns im Augenblick seelisch befinden, unsere Befindlichkeit.

Prana – die Vitalenergie

Energie kennen wir als Strom aus der Steckdose oder Kraftstoff aus der Tankstelle. Dies ist eine nachvollziehbare und offensichtliche Form der Energie. Wir drücken auf einen Schalter – und die Energie wird sichtbar. Energie ist jedoch Teil aller Ebene unserer Existenz, sie heißt inder Yogatradition Prana, Vitalenergie. Es gibt einen feinen, variablen Schieberegler, womit wir unsere eigene Energie ausbalancieren können. Energie – was nicht nur Kraft bedeutet, sondern alles was dafür nötig ist, das Leben sprudeln zu lassen – ist im Überfluss für uns alle da: Pranayama ist der Schlüssel dazu.

Das Physische, das Feine und das Allerfeinste

Ein Sprungbrett ist ein Instrument, mit dem man eine andere Ebene erreichen kann. Man hat so die Freiheit, eine neue Dimension einzunehmen und den Horizont ins Unendliche zu dehnen. Yoga bietet dies an. Im Yoga haben wir zunächst die Körperübungen und -haltungen – eine Art Feintuning des Körpers zum Abbau von Spannungen und Blockierungen. Anfangs finden wir ebenfalls die Reinigungsübungen des Yoga, wie z. B. unterschiedliche Spülungen von Nase, Magen, Darm –Übungen, die den Körper reinigen und in seine Mitte bringen.

Pranayama ist der nächste Schritt, die Eintrittskarte zum Platz in der ersten Reihe in der Welt der Gedanken, Emotionen und des Unbewussten, und ein Premium-Zutritt zum Regler des Nervensystems. Ein starr gewordener innerer Kompass gerät ins Strudeln, um sich dann neu auf Kurs einzupendeln. Pranayama ist das Sprungbrett zu verschiedenen Bewusstseinsebenen und zur Stille hinter dem Gedankenleben.

Autonomic Response

Wissenschaftler, die Forschungen zu Atemübungen gemacht haben, sind sich darin einig, dass die Atemübungen ein Autonomic-Response (autonome Reaktion) auslösen.

Unser Nervensystem ist in verschiedene Bereiche eingeteilt. Das zentrale Nervensystem umfasst das Gehirn und das Rückenmark, die weiteren Verästelungen der Nervenbahnen bilden das periphere Nervensystem. Das autonome (oder vegetative) Nervensystem heißt so, weil die Abläufe, wie z. B. der Stoffwechselprozess, die Herzfrequenz, der Blutdruck, hormonelle Veränderungen etc., „automatisch“ sind und nicht unserem Einfluss und Willen unterliegen. Mit Pranayama ist das grundsätzlich anders, und du kannst nun selbst deine Gesundheit in die Hand nehmen, die „Regler“ hin und her schieben – wenn nötig bis die innere physische und mentale Balance erreicht ist – und/oder die Energie auf ein höheres Niveau bringen.

Wir möchten hier allerdings betonen, dass das Ausmaß der Wirkung der Pranayama mit der Intensität, Regelmäßigkeit und Genauigkeit des Übens verbunden ist.

Nadi-Shodana und Blutdruck

Hier zeigen wir ein Beispiel aus einer Pilotstudie mit Nadi Shodana, dem Wechselatem, mit einer kontinuierlichen Blutdruck-Messung bei einer Person mit mehreren Jahren Erfahrung mit Pranayama (Hamsananda).

Das Diagramm zeigt einen Teilablauf von Nadi-Shodana in der Version, in der bestimmte Verhältnisse (1:4:2) der Atemphasen eingehalten werden (siehe Infobox).

Die Kurven zeigen die Bewegung des Blutdrucks in Relation zum Atem und der Herzfrequenz. Während des Einatmens bleibt der Blutdruck gleich. Währende des Anhaltens sinkt er auf 100 mm Hg systolisch bzw. auf ca. 70 mm Hg diastolisch und klettert in der Phase des Ausatmens auf knapp 200 mm Hg systolisch bzw. ca. 130 diastolisch. Die Herzfrequenz sinkt beim Beginn des Ausatmens etwas ab, um die Drucksteigerung abzufangen. Der Blutdruck erreicht am Ende wieder Basiswerte.

Die vorliegenden Daten sind spektakulär und waren für die anwesenden Fachleute zugleich ein Rätsel: Wieso sind diese dramatischen Veränderungen überhaupt möglich? Wie kann man das erklären?

Weitere Versuche zeigten dasselbe Bild. Die relativen Änderungen waren die gleichen, unabhängig von Person und Erfahrung, bei wenig Geübten gab es nur kleine Veränderungen. Es gab also einen direkten Zusammenhang zwischen Erfahrung mit Nadi-Shodana und Werten.
Die Wissenschaftler schlussfolgerten, dass Nadi-Shodana in der Lage ist, den Blutdruck beweglich und flexibel zu halten. Der Blutdruck bleibt nicht oben oder unten “hängen”, er passt sich an und findet im Endeffekt das richtige Niveau.

Die Wissenschaftler waren in der genannten Untersuchung von Nadi-Shodana sehr aufgeregt und konnten ihren Instrumenten zunächst nicht wirklich Glauben schenken. Als Übender merkst du gar nicht von alldem, nur dass du dich um den Körper nicht mehr zu kümmern brauchst; er beginnt – wenn er nicht schon vorher damit begonnen hat – sich selbst zu regeln. Zitat aus einem wissenschaftlichen Artikel über Pranayama: „Pranayama beginnt wie eine komplette Medikation zu wirken“.

Es gibt weitere Studien über Nadi-Shodana, die in medizinischen Datenbanken zu finden sind. Sie zeigen, dass eine bessere Balance zwischen den Gehirnhälften zustande kommt, Lernfähigkeit und Konzentration sich verbessern, sie zeigen, und die Übenden zur Ruhe kommen. Weitere Atemübungen zeigen jeder für sich spektakuläre positive Wirkungen.

Die Welt außerhalb

Warum kommt man nach Nadi-Shodana zur Ruhe und reagiert weniger auf Stress? Wie kann es sein, dass man nach den Atemübungen aus dem Fenster in die Ferne zu schauen beginnt oder sich an etwas erinnert, das in Vergessenheit geraten war?

Eine Untersuchung (1)  brachte uns näher an eine Erklärung. In dieser Meditation (dem kleinen Kriya Yoga) verwendete Hamsananda Ujjayi Pranayama – eine weitere Atemübung. Die Elektroden auf seinem Kopf sollten die elektrische Aktivität meines Gehirns messen. Einer der Wissenschaftler schlug während der Meditation mehrmals plötzlich und unerwartet auf den Tisch und erzeugte so einen lauten Knall. Hamsananda bemerkte dies und wunderte und fragte sich: Was machen die da eigentlich?

Später bekam er die Erklärung: Sie wollten ihn absichtlich stören und ihn aus der Meditation und seiner Ruhe herausreißen. Trotz wiederholter Versuche ist ihnen dies nicht gelungen. Sie konnten in ihren Daten sehen, dass er die Laute bemerkt hat und für einen Augenblick änderte sich die feine, regelmäßige Sinuskurve, es entstand kurz eine Verzerrung, die Sinuskurve kam aber gleich zurück. Warum wurde er nicht gestört?

Wenn man den Atem anhält, was man beim Ujjayi-Atem und vielen anderen Atemübungen tut, dann ist die Frage: Kann man den Atem anhalten und gleichzeitig träumen? Nein, das ist ziemlich schwierig und darin liegt auch die Erklärung. Die Aufmerksamkeit ruht nicht nur im Inneren, sie richtet sich teilnehmend nach Außen, du beginnst intensiver zu erleben und dich zu erinnern. Die Forscher konnten Hamsananda nicht aus seinem Inneren herausreißen, denn er war – den geschlossenen Augen und der stabilen Meditationsstellung zum Trotz – omnipräsent: Der Mensch beginnt in Ganzheiten zu erleben – aus einem in sich ruhenden Zustand.

„Wenn der Atem
ungleichmäßig ist,
dann ist der Geist unruhig,
aber wenn der Atem still ist,
ist auch der Geist still
und der Yogi bekommt
die Kraft der Stille.
Deswegen soll der Atem
angehalten werden.“

Hatha Yoga Pradipika

Teil zwei und drei der Trilogie sind hier zu finden:
→ Teil 2:  Prana und die Kraft der Kohärenz
→ Teil 3: Prana, Yama und Kriya-Yoga

INFOBOX

Der Anfang von Nadi Shodana, dem Wechselatem. Die Anleitung

Nadi Shodana - der Wechselatem

Sitz aufrecht in einer Meditationsstellung. Schließ die Augen. Sitz einen Augenblick und komm zur Ruhe. Schließ nun das rechte Nasenloch mit dem Daumen der rechten Hand, stütz Zeige- und Mittelfinger zwischen den Augenbrauen und atme langsam durch das linke Nasenloch vollständig ein. Verschließ nun das linke Nasenloch mit dem Ringfinger, öffne das rechte Nasenloch und atme langsam aus. Atme durch das rechte Nasenloch ein, verschließ es dann mit dem Daumen und atme durch das linke Nasenloch aus. Der genannte Ablauf ergibt eine Runde.

Atme so langsam, tief und lautlos wie möglich. Wiederhol dies mehrere Runden ohne Unterbrechung. Mit zunehmender Erfahrung erhöhe die Zahl der Runden in jeder Sitzung von 7 auf 21.

Übe so lange regelmäßig, bis es selbstverständlich wird. Dann füge das Anhalten nach dem Einatmen hinzu. In diesem Fall übe 5 Runden. In einen weiteren Schritt wird der Atem in einem bestimmten Verhältnis eingeteilt: Atme mit 3 ein, halte den Atem mit 12 an, atme mit 6 aus. Erhöhe die Zahlen mit der Zeit und mit wachsender Erfahrung – immer im Verhältnis 1:4:2.

Nach Nadi-Shodana bleib für eine Weile still.

  • Quellen und Verweise:
    (1) Dr. Thomas H. Schmidt: Cardiovascular Reactions and Cardiovascular Risk, Abschnitt Cardiovascular Reactions during Yoga Breathing Exercises. Karger Biobehavioral Medicine Series, Vol. 2, Basel 1983

Zwischen dem Ein- und Ausatem gibt es die StilleZum Weiterlesen: Yogacharya Hamsananda: Zwischen dem Ein-und Ausatmen gibt es die Stille -Praxisbuch über Atem und Pranayama, die Atemübungen des Yogas. BoD Verlag 2021. → Zur Buchvorstellung